Russka
Sohn allein zu sprechen. Ich kann doch die Dinge nicht so auf sich beruhen lassen, dachte er. Zwei Tage später ergab sich diese Möglichkeit ganz zufällig. Es war früh am Abend; Popov war nach Russka gegangen, und Nikolaj hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen. Zufällig sah Mischa jedoch, wie Nikolaj nach einiger Zeit zu einem Spaziergang in den Wald oberhalb des Hauses aufbrach. Er lief seinem Sohn nach und holte ihn ein, als er den Rücken der Anhöhe erreicht hatte und sich ostwärts wandte. Nikolaj warf ihm einen erstaunten Blick zu, sagte jedoch nichts. Mischa war ihm dafür dankbar und ging schweigend neben ihm her.
Als die Anhöhe eine Biegung nach Süden zu machte, sagte Mischa endlich: »Es tut mir leid, daß du nicht mehr mit mir sprechen kannst. Das ist traurig für einen Vater.«
Obwohl Nikolaj nicht antwortete, spürte Mischa, daß sein Sohn sich etwas beruhigt hatte. Er hatte die Hoffnung, die Zuneigung des Jungen wiederzugewinnen.
Während sie so gingen, wurde Nikolaj von allen möglichen Emotionen hin und her gerissen, und sein Vater hatte nicht zu Unrecht eine Beruhigung in ihm wahrgenommen. Dieser Spaziergang brachte eine Flut von Kindheitserinnerungen mit sich, die schlichte Frömmigkeit der Mutter, die Güte des Vaters. Das konnte Nikolaj nicht leugnen. Und wenn er sich auch in den vergangenen Monaten darauf eingestellt hatte, ihn zu hassen – in Wahrheit empfand er für den Gutsbesitzer Mitleid. Was aber sollte er machen? Konnte er in letzter Minute seinen Vater vor dem kommenden Sturm retten? Am Ende des Pfades sahen sie dann, was mit dem Wald geschehen war. Es war immer ein hübscher Rastplatz gewesen. Das Gelände fiel steil zum Fluß hin ab, und man hatte einen reizvollen Blick südwärts über das silbrige Wasser und den Wald. Dieses Bild hatten beide Männer erwartet.
Doch dreihundert Meter vor dem Ende der Anhöhe gab es nun keinen Wald mehr. Vor ihnen dehnte sich eine riesige, häßliche Narbe kahlen Bodens, übersät mit verrotteten Baumstümpfen. Der ehemals bewaldete Abhang war gänzlich abgeholzt, und ein Erdrutsch hatte eine tiefe Furche hinterlassen. Beide starrten entsetzt auf diese verheerende Szene. Dann fragte Nikolaj: »Hast du das getan, Vater?«
Nach Minuten bestürzten Schweigens murmelte Mischa nur: »Es sieht fast so aus.« Er schüttelte den Kopf: »Dieser verdammte Kaufmann!«
Im Grunde wunderte Bobrov sich nicht. Was er da sah, war das Ergebnis eines inzwischen üblichen Verfahrens, das seine Spuren in weiten Teilen Rußlands hinterließ: Verpachtung. Wie die meisten Landbesitzer hatte Mischa Bobrov nach der Befreiung der Leibeigenen etwas Ackerland, mehr Weideland und den größten Teil des Waldes behalten. Da es ihm an Bargeld fehlte und er sich nicht für immer von dem ihm verbliebenen Land trennen wollte, hatte er als Kompromiß einen Teil des Waldlandes an einen Kaufmann verpachtet. Gegen eine feste Summe, die Hälfte als Vorauszahlung, erhielt der Kaufmann einen Zehnjahresvertrag; in dieser Zeit konnte er nach Gutdünken mit dem Wald verfahren. Um sein Geld zurückzubekommen, ließ der Kaufmann eilends abholzen und verkaufte das Holz. Da er wegen der Kürze der Pachtzeit kein Interesse am Aufforsten hatte, ließ er auf dem gerodeten Grund Vieh weiden, so daß am Ende der Pacht natürliches Nachwachsen bereits unmöglich war.
Die daraus folgende Erosion und Durchfurchung des Bodens gehören zum Schlimmsten, was der russischen Landschaft bis zum 20. Jahrhundert angetan worden ist.
Lange davor hatte Mischa die Wälder des Besitzes in Rjazan verpachtet, und diese waren inzwischen gänzlich zerstört. Vor Jahren hatte er das gleiche mit den Wäldern um Russka gemacht. Bis heute hatte er sich nicht darum gekümmert, was darauf geschah. Als er nun die Zerstörung sah, fühlte er sich tief beschämt. Auch Nikolaj blickte auf die häßliche Furche. Popov hat recht, dachte er. Mit diesen verantwortungslosen Landbesitzern ist nichts anzufangen, nicht einmal mit meinem Vater. Sie sind nutzlose Parasiten. Langsam gingen die beiden Männer zurück; Mischa fühlte die Verachtung seines Sohnes und war sehr traurig darüber. Unterwegs sprachen sie kein Wort mehr.
Auf seinem Rückweg von Russka überlegte an ebenjenem Abend Jevgenij Popov, daß sich die Dinge alles in allem zu seiner Zufriedenheit entwickelten. Der junge Bobrov war zwar romantisch, aber das schadete nichts. Er würde ihm dennoch von Nutzen sein. Auch Peter Suvorin war eine Hilfe. Ein Idealist,
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