Russka
Sozialphilosoph Fourier, glaubten, die Bauernkommune auf dem Land sei die beste Art von natürlichem Sozialismus. Tatsächlich waren viele der Ansicht, Rußland sei weit entfernt von seiner Errettung. »Es kann, dank dem natürlichen Kommunismus der Dörfer, unmittelbar vom Feudalismus zum Sozialismus überwechseln«, hieß es. Obwohl wenige das Landleben aus nächster Nähe kannten, waren sie doch überzeugt, daß sie nur in den Dörfern zu arbeiten und das Vertrauen der Bauern zu gewinnen brauchten und schon werde, auf einen Wink hin, eine natürliche Revolution stattfinden. »Der Bauernstand wird aufstehen und eine neue, einfache Ordnung schaffen, nach der das gesamte russische Reich uneingeschränkt unter der bäuerlichen Bruderschaft aufgeteilt wird«, versicherten sie sich gegenseitig.
Nikolaj fühlte sich von dieser Bewegung magisch angezogen. Viele seiner idealistischen Freunde stellten sich freiwillig zur Verfügung. Anfangs bemerkten die Behörden nicht, was vor sich ging. An die zweieinhalbtausend Studenten schleusten sich in jenem Sommer in Hunderte von Ortschaften ein; einige auf ihren eigenen oder auf nahe gelegenen Besitzungen, viele andere jenseits der Wolga oder in den alten Kosakenländern am Don. Sie erklärten den Kosakenbauern, die Zeit von Pugatschev und von Stenka Razin sei wieder angebrochen. Daraus, so hofften alle, werde eine neue Welt geboren werden.
Nikolaj sah in die Gesichter vor sich. Es war schwer gewesen. Er hatte nie etwas dagegen gehabt, sein Erbe zu opfern – daran lag ihm nichts –, doch seine Eltern würden enteignet werden. Und das wird sie zerbrechen, dachte er. Welche Fehler sie auch haben mochten, er liebte sie immer noch. Doch als er den zerstörten Wald gesehen hatte, hatte er die Überzeugung gewonnen, daß Mischa keine Schonung verdiene. Erhitzt und erregt wartete er auf die Reaktion der Dorfbewohner. »Nun«, rief er, »seid ihr auf meiner Seite?« Niemand bewegte sich. Es herrschte absolute Stille. Sie schauten ihn einfach nur an. Hatte er sie überzeugt? Was ging in ihren Köpfen vor? Wollte keiner etwas sagen?
Nach längerer Zeit trat schließlich ein kleiner schwarzbärtiger Mann vor. Er sah mißtrauisch zu Nikolaj hoch, bevor er seine Frage stellte: »Sie sagen also, junger Mann, daß der Zar uns das ganze übrige Land gegeben hat?«
Nikolaj starrte ihn an. »Nein«, antwortete er wahrheitsgemäß, »es gehört euch, und ihr müßt es euch nehmen.«
»Ach so«, nickte der Mann. Sein Mißtrauen schien bestätigt worden zu sein. »Nun gut«, er trat zurück, »der Zar hat es nicht gegeben.« Ein verständnisvolles Gemurmel wurde hörbar, das deutlicher als alle Worte sagte: Dieser junge Kerl weiß nicht, wovon er spricht. Nikolaj spürte, wie er blaß wurde. War das etwa die Revolution – die spontane Erhebung der Kommune? Was war falsch gelaufen? Er forschte in ihren Gesichtern nach einem Zeichen, blickte fragend zu Popov hin, der nur die Achseln zuckte. Nach einer peinlich langen Minute wandten sich einige Dorfbewohner zum Gehen. »Ich spreche morgen wieder«, kündigte Nikolaj an und stieg von seinem Schemel.
Vor ihm standen etwa zehn Personen, darunter die Romanovs. Anscheinend hatten seine Worte ihre Wirkung auf Timofej Romanov nicht verfehlt. Der Bauer wirkte aufgeregt und wollte offensichtlich etwas sagen. »Habe ich recht verstanden, Nikolaj Michailovitsch«, fragte er besorgt, »Sie wollen, daß Ihr Vater sein Land verliert?«
»Ja.«
»Das dachte ich mir.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was heutzutage in euch junge Leute gefahren ist. Mein Sohn tut mir das gleiche an. Warum ist das nur so?«
»Das Land soll an die Kommune gehen, und dann ist genügend für jeden da. Das habt ihr doch immer gewollt.«
»Und das geschieht in ganz Rußland?«
»Ja. Eben jetzt.«
Timofej schüttelte wieder den Kopf. »Das ist furchtbar«, meinte er. »Es wird Blutvergießen geben.« Als er sah, wie verwirrt Nikolaj war, nahm er ihn beim Arm. »Ich nehme an, daß Sie es gut meinen, Nikolaj Michailovitsch«, sagte er freundlich, »und eines gottgefälligen Tages wird man uns das ganze Land geben, genau wie Sie sagen. Der Zar wird sehen, daß wir es brauchen, und er wird es geben. Er wird zu mir sagen: Timofej, dieses Land gehört dir. Und ich werde antworten: Ich danke Eurer Hoheit. Und das ist alles.«
Er sah Nikolaj ernst an. »Aber wir müssen Geduld haben, Nikolaj Michailovitsch. Das ist Gottes Wille, und es ist unsere russische Art. Wir müssen
Weitere Kostenlose Bücher