Russka
meinte Popov. Vor allem hatte dieser Industriellensohn, genau wie Nikolaj Bobrov, ein schlechtes Gewissen. Erstaunlich, wie man Leute, die sich schuldig fühlen, manipulieren kann, dachte Popov. Bisher hatte er Peter Suvorin fast nichts erzählt; doch der hatte ihm das Versteck verschafft, nach dem er gesucht hatte: einen Vorratsraum in einem kaum benutzten Lagerhaus, in dem nur Geräte zum Schneeräumen aufbewahrt wurden. Während der Sommermonate kam niemand dorthin. Peter Suvorin hatte Popov den Schlüssel für den Raum gegeben. Popov hatte erklärt, er wolle dort Bücher lagern. Mitte Mai machte er sich dann an die Arbeit. Die kleine Druckerpresse genügte seinen Bedürfnissen vollauf.
Innerhalb weniger Tage hatte er alle Zettel, die er vorerst benötigte, fertiggestellt, die Presse wieder auseinandergenommen und die Teile unter den Bodenbrettern versteckt. Nun konnte es losgehen.
Es war ein Büchlein, eigentlich ein schlecht geschriebener, von irgendeinem obskuren Revolutionär verfaßter Roman, teilweise extrem sentimental – und doch war es für Nikolaj Bobrov wie für Tausende seiner Generation eine Inspiration. Der Titel des Buches lautete: »Was tun?«
Darin war die Rede von den neuen Menschen, die die Gesellschaft ins neue Zeitalter führen würden, in ein Zeitalter, in dem alle Menschen frei wären. Es schuf für den Leser das Bild eines neuen Menschentyps – halb Heiliger, halb Übermensch –, der rein durch seine moralische Kraft seine schwächeren Brüder zum allgemeinen Wohl führen werde. Diesen kühnen neuen Menschen hatte Nikolaj im Sinn, als er mit Popov nach Russka kam. Natalia beobachtete Nikolaj fasziniert. Er stand auf einem Holzschemel vor der isba ihrer Eltern; eine kleine Gruppe hatte sich um ihn gescharrt. Mein Gott, wie gut er aussah!
Natalia hatte gerade zwei Wochen in Russka gearbeitet; langweilige Schichten von zehn bis zwölf Stunden in der Baumwollfabrik, die sich die Mädchen durch Singen von Liedern zu verkürzen suchten. Oft begegnete sie Grigorij, ehe sie nach Hause zu ihren Eltern ging – er hatte sich immer noch nicht entschieden. Meist war sie so müde, daß es ihr sogar gleichgültig war, ob er sie heiratete oder nicht.
Nikolaj stand also auf dem Schemel und hielt eine Ansprache. Er fühlte sich albern und unbequem, doch Popov hatte ihm erklärt: »Es ist wichtig, daß du das tust, denn du stehst ihnen näher als ich, Nikolaj. Du mußt Mut fassen und es einfach tun.« Menschen aus etwa fünf Häusern hatten sich inzwischen versammelt. »Ich bringe euch gute Nachricht, liebe Freunde«, begann Nikolaj. Sie hörten aufmerksam zu, während er ihnen die zahlreichen Schwierigkeiten ihres Daseins vor Augen führte. Als er von der Notwendigkeit sprach, den Ertrag ihrer Felder zu erhöhen und den Raubbau an den Wäldern zu beenden, gab es zustimmendes Kopfnicken. Als er sich für die Rolle entschuldigte, die seine eigene Familie in ihrem elenden Leben spielte, gab es erstaunte Augen, sogar ein Schmunzeln hier und da. Und als er ruhig ankündigte, sie sollten alles Land haben, auch das, was seinem Vater noch gehörte, erfolgte laute Zustimmung. »Wann gibt er's uns denn?« rief eine Frau.
»Mein Vater wird euch nicht helfen, meine Freunde«, erklärte Nikolaj, »auch kein anderer Landbesitzer. Es sind Parasiten – eine sinnlose Last aus früherer Zeit. Wir treten in ein neues Zeitalter ein, in ein Zeitalter der Freiheit. Und es liegt in eurer Hand, heute dem neuen Zeitalter zum Durchbruch zu verhelfen. Das Land gehört dem Volk. Nehmt also, was euch rechtens zusteht! Wir sind nicht allein. Ich sage euch, daß in diesem Augenblick in ganz Rußland die Leute in den Dörfern sich gegen die Unterdrücker erheben. Folgt mir – wir nehmen den Besitz der Bobrovs. Nehmt alles – es gehört euch!« Er hatte es hinter sich.
Wenige Ereignisse in der russischen Geschichte waren so merkwürdig wie jene des Sommers 1874. Nikolaj und sein Freund waren tatsächlich nicht allein; ihre seltsame Mission bei den Bauern wiederholte sich in anderen Ortschaften in ganz Rußland, eine Bewegung, die als der »Gang ins Volk« in die russische Geschichte eingegangen ist.
Die jungen Leute, Männer und Frauen, waren fast alle Studenten. Einige hatten im Ausland studiert. Etwa die Hälfte waren Nachkommen von Landbesitzern oder hohen Beamten, die übrigen kamen aus Familien von Kaufleuten, Geistlichen oder kleineren Bürokraten. Die Politik folgte den Ideen jener, die, wie der französische
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