Russka
leiden und Geduld haben, bis der Zar entscheidet, daß der Tag gekommen ist.« Und mit einem freundlichen Lächeln drehte er sich um und ging.
Seufzend wandte sich Nikolaj an Boris. »Nun, was denkst du?« Boris sah nachdenklich aus. »Wenn wir das ganze Land deines Vaters unter uns aufteilen«, überschlug er vorsichtig, »hätte ich genug, um zwei, vielleicht drei Lohnarbeiter anzustellen.« Er grinste. »Also, ein paar solche Jahre, ein paar gute Ernten, und ich könnte sogar reich werden.« Er nickte. »Wenn das die Revolution ist, Nikolaj Michailovitsch, bin ich ganz dafür.« Nikolaj blickte ihn erstaunt an. Hatte der junge Bursche nichts anderes im Sinn als persönlichen Gewinn und die Ausbeutung anderer? »Leider habe ich das eigentlich nicht gemeint«, sagte er traurig.
Nikolaj und Popov gingen gedankenversunken den Hügel zum Herrenhaus hinauf. Vielleicht, überlegte Nikolaj, hatte er die Ereignisse einfach zu schnell erwartet. Ein paar Ansprachen noch, ein paar Tage, Wochen, sogar Monate, und die Botschaft würde allmählich durchdringen. Er wollte es morgen und übermorgen noch einmal versuchen.
Popov brach das Schweigen. »Wir hätten ihnen sagen sollen, daß der Zar ihnen das Land gibt«, meinte er gedrückt. »Ich hätte sogar eine falsche Proklamation drucken können.«
»Aber das wäre gegen alles, wofür wir einstehen«, widersprach Nikolaj. Popov zuckte die Achseln. »Aber es hätte möglicherweise gewirkt.«
Wenn Nikolaj dachte, er habe keine Anhänger gewonnen, täuschte er sich.
Natalias Gedanken wirbelten durcheinander. Die Rede vom Abend vorher hatte sie tief berührt. Wie sie nun am frühen Morgen das Dorf verließ, klangen die Sätze noch in ihr nach. Ein neues Zeitalter, das Ende der Unterdrückung! Bis jetzt hatte sie ihrem Vater geglaubt und Vertrauen in den fernen Zaren gehabt. Aber als sie Nikolaj zuhörte, war ihr, als öffnete sich eine ganze Welt. Nikolaj war gebildet. Bestimmt wußte er viele Dinge, die ihr armer Vater nicht verstehen konnte. Und in letzter Zeit hatte sie eine weitere Art der Unterdrückung kennengelernt, so schlimm wie in den Tagen der Leibeigenschaft: Suvorin und seine Fabriken. Hier wurde der Bauer tatsächlich versklavt. Sie verabscheute das; von Grigorij wußte sie, daß sein Haß auf Suvorin schon an Besessenheit grenzte. Ob da wirklich ein neues Zeitalter heraufdämmert, überlegte sie, in dem wir alle frei sein werden? Und wenn das so wäre, würden dann die Bauern in der Fabrik von dieser Revolution nicht auch ihren Nutzen haben? Wenn sie nur den jungen Nikolaj fragen könnte! Als ihr Weg sie in den Wald führte, sah sie Popov. Er machte einen frühen Spaziergang. Er trug einen breitkrempigen Hut wie ein Künstler, und als sie näher kam, lächelte er ihr freundlich zu. Das ermutigte sie, und weil sie doch Bescheid wissen wollte, fragte sie ihn. »Diese Revolution und das neue Zeitalter, von dem Nikolaj Michailovitsch gesprochen hat – wird das auch etwas in den Fabriken ändern?«
Er lächelte wieder. »Wieso fragst du? Natürlich!«
»Was wird geschehen?«
»Die Fabriken werden alle an die Bauern übergeben«, antwortete Popov rasch.
»Wir müßten nicht mehr so viele Stunden arbeiten, und Suvorin würde man hinauswerfen?«
»So ist es.«
»Ich habe einen Freund, der sicher gern mehr darüber und über Nikolaj Michailovitsch erfahren würde«, meinte sie zögernd, »aber er ist in der Fabrik.«
Da sah Popov sie aufmerksam an. »Ich bin heute nachmittag in Russka, falls dein Freund mit mir sprechen möchte.« Und als er eine Spur des Zweifels in ihrem Gesicht sah, fügte er hinzu: »Ich kenne eine abgelegene Stelle.«
Am späten Nachmittag, als Nikolaj den Schemel vor Romanovs isba wieder bestiegen hatte, stellte er fest, daß sich mehr Menschen eingefunden hatten als am Tag zuvor. Er war erfreut darüber. Popov hatte ihn allein gelassen, weil er nach Russka gehen wollte. Die Menschenmenge war nicht nur größer, sie war unruhig. Es befanden sich mehrere ältere Dorfbewohner darunter, und der Dorfälteste hielt sich im Hintergrund. Sie hatten schon auf Nikolaj gewartet.
Es kam dem Jungen nicht in den Sinn, daß die Dorfbewohner ihn verhaften wollten. Tatsächlich wollten ein paar Leute den Polizeibeamten aus Russka holen, doch der Dorfälteste hatte das abgelehnt, da es sich immerhin um den Sohn des Gutsbesitzers handelte. Ich will selbst hören, was er sagt, bevor ich in Aktion trete, hatte er beschlossen.
»Wieder stehe ich mit guten
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