Russka
Neuigkeiten vor euch, liebe Freunde. Denn heute geschehen überall in unserem geliebten Rußland große Dinge«, begann Nikolaj. »Ich spreche nicht von ein paar Protesten, nicht von hundert Tumulten, noch nicht einmal von einem riesigen Aufstand, wie wir ihn aus der Vergangenheit kennen. Ich spreche von etwas viel Wichtigerem – von der Revolution!« Als die Menge gespannt aufhorchte, sah Nikolaj den Dorfältesten auf sich zukommen. Arina bemerkte er nicht, die sich eilig aus dem Dorf entfernte.
Jevgenij Popov blickte gelassen in das erregte Gesicht Peter Suvorins. Welch ein gutes, empfindsames Gesicht das war! Merkwürdig, daß der Enkel des grimmigen alten Sawa Suvorin solch ein romantischer Bursche sein konnte; das Dokument, das Peter mitgebracht hatte, war fast ein Gedicht. Peter wußte das natürlich nicht. Er dachte, er habe einen Aufruf zur Revolution verfaßt. Schon bald machte Popov sich zu Peters Mentor. Rasch hatte er Peters Haß auf die Fabrik herausgefunden, seine Schuldgefühle wegen der Arbeiter dort, seine poetische Sehnsucht nach einer besseren Welt. Popov gab ihm ein Exemplar von »Was tun?« und sprach mit ihm über seine Verantwortung in der Zukunft. Erst vor kurzem hatte Popov angedeutet, daß er einer größeren Organisation mit einem Zentralkomitee angehöre. Offenbar war Peter davon fasziniert. Popov hatte auch auf die kleine Druckerpresse angespielt. Vor allem aber hatte er Macht über Peter gewonnen durch die einfache Kunst, Lob zu spenden oder mit Lob zu sparen. Es war erstaunlich, wie sehr die Menschen Lob brauchten. Wenn auch der Erbe des großen SuvorinUnternehmens fraglos ein wichtiger Fang war, wußte Popov noch nicht genau, wie er ihn einsetzen sollte. Der Bursche war einfach zu konfus und idealistisch. Der Aufsatz, den er Popov gebracht hatte, war die leidenschaftliche Quintessenz all seiner Gedanken. Es war ein Schrei nach sozialer Gerechtigkeit, eine fast religiöse Beschwörung menschlicher Freiheit. Er sprach eindringlich von der Unterdrückung in Russka – nicht so sehr des Körpers wie der Seele. Der Aufsatz endete mit dem Ruf nach Revolution – einer sanften Revolution. Peter hatte viele Stunden daran gearbeitet, und nun erwartete er voller Spannung das Urteil seines Mentors.
»Du glaubst also, das Volk könnte die Macht ohne Blutvergießen übernehmen?« fragte Popov. »Daß die Unterdrücker einfach aufgeben, wenn die Leute sich weigern mitzumachen?«
»Genau das.«
Popov blickte ihn nachdenklich an. »Ich werde das ans Zentralkomitee weiterleiten. Halte dich inzwischen zur Verfügung.« Peter Suvorin errötete vor Freude. Popov steckte die Papiere in die Tasche und wandte sich zum Gehen. In Kürze sollte er Natalia und ihren Freund treffen.
Mischa Bobrov langte erhitzt im Dorf an. Arina war so hartnäckig gewesen, daß er sofort zu Fuß hinübergelaufen war. Hätte er Arina nicht ein Leben lang gekannt – er hätte ihrem Bericht nicht geglaubt. Als er nun gerade noch Nikolajs letzte Worte hörte, wurde er blaß. Furchtbare Worte, gesprochen vom eigenen Sohn! »Erhebt euch! Nehmt Bobrovs Land und alle anderen Güter. Dafür haben wir die Revolution, meine Freunde!« Es war also wahr. Sein einziger Sohn war ein Verräter. Er hatte vor, seine Eltern zu ruinieren. Mischa fühlte, wie Arina ihn am Ärmel zupfte. »Schauen Sie!«
Da sah er, daß die Dorfbewohner plötzlich alle zum Dorfältesten hinblickten, der in Begleitung zweier älterer Männer auf ihn zukam. »Sie wollen ihn zur Polizei bringen«, flüsterte Arina. »Er wird verhaftet. Sie müssen etwas unternehmen.« Ja, sie hatte recht. »Nikolaj!« rief Mischa. Die Menge wandte sich ihm überrascht zu. »Nikolaj, mein armer Junge!«
Die Leute wichen zurück, selbst der Dorfälteste zögerte, als der Landbesitzer auf seinen erstaunten Sohn zuging. Nun wandte Mischa sich ärgerlich an die Menge. »Warum hat mir niemand früher Bescheid gesagt?« polterte er los. Dann herrschte er den Dorfältesten an: »Schnell, helft mir, ihn herunterzuholen. Der arme Junge!«
Nikolaj war so verblüfft über das, was da geschah, daß er sich widerspruchslos vom Schemel heben ließ. Sein Vater lächelte ihm mitleidig zu und stieg selbst auf den Schemel. »Es ist meine Schuld, liebe Freunde. Ich hätte euch warnen sollen.« Er sah leicht verlegen aus. »Mein Sohn leidet an nervösen Störungen. Die Ärzte in Moskau verordneten Landluft und intensive körperliche Betätigung. Deshalb hat er auf den Feldern gearbeitet.« Traurig
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