Russka
Aufmerksamkeit auf sich. Eines war tatsächlich von einer ledernen Kappe verdeckt. Das Gesicht sah aus, als wäre es irgendwie entstellt, verbrannt. Die eine Hälfte wirkte gleichsam entrückt, wie es mitunter bei Blinden der Fall ist. Die andere dagegen war lebhaft, intelligent, energisch – das wache blaue Auge nahm alles um sich herum wahr. Dieses gesunde Auge, das spürte Ivanuschka plötzlich, war auf ihn gerichtet. »Rasch, hierhin.« Der Diener führte ihn zum podol. Das Haus des Chazaren Zhydovyn, war, wenn auch nicht so groß wie Igors Haus, so doch beeindruckend: ein solides zweistöckiges Gebäude aus Holz mit einem steilen Holzdach, zwei großen Räumen im vorderen Teil und einem Hof nach hinten. Es stand gleich hinter dem Chazarentor nahe der Mauer von Jaroslavs Zitadelle.
»Hier kümmern sie sich ein paar Tage um dich«, erklärte ihm der Diener, »bis es sicher genug ist, daß wir dich aus der Stadt schmuggeln können.« Gleich darauf war er verschwunden. Ivanuschka fühlte sich wohl bei dem Chazaren und seiner Familie. Zhydovyns Frau war dunkelhaarig und stämmig, ähnlich wie ihr Mann. Sie hatten vier Kinder, jünger als Ivanuschka, mit denen er fast den ganzen Tag im Haus spielte.
Am dritten Tag verkündete Zhydovyn, als er von seinem morgendlichen Gang in die Stadt zurückkam: »Der Fürst von Kiev ist nach Polen gereist, um den König um Hilfe zu bitten.« Ivanuschka sah überrascht auf. »Heißt das, daß auch mein Vater nach Polen unterwegs ist?«
»Ich nehme es an.«
Ivanuschka schwieg. Polen lag weit im Westen. Plötzlich fühlte er sich sehr verlassen.
»Glaubst du, daß die Polen einmarschieren?« fragte Zhydovyns Frau besorgt.
»Wahrscheinlich.« Der Chazar verzog das Gesicht. »Der polnische König und Izjaslav sind Vettern, mußt du wissen.« Dann ging sein Blick zu Ivanuschka. »Es gibt noch ein weiteres Problem.« Er zögerte. »Es geht das Gerücht, jemand verstecke im Chazarenquartier ein Kind aus der druzina. Sie durchsuchen gerade die Zitadelle.« Ivanuschka spürte alle Augen auf sich gerichtet. Offenbar wurde seine Anwesenheit für die Menschen hier gefährlich. Zhydovyns Frau sagte nachdenklich: »Er sieht nicht aus wie ein Chazar. Aber vielleicht können wir das ändern.«
Und kurze Zeit später gab es einen neuen Bewohner im Haus des Chazaren. Sein Haar war sorgfältig schwarz gefärbt. Er trug einen schwarzen Kaftan und ein türkisches Käppchen. Er murmelte sogar ein paar türkische Brocken vor sich hin.
»Das ist euer Vetter David aus Tmutorokan«, erklärte die Mutter ihren Kindern. Und am nächsten Tag saß der stille, unauffällige Junge bei den anderen Kindern, als die Wachen des Werwolf-Fürsten die Frau des Chazaren befragten. »Es heißt, einer der Igorevitschi befinde sich noch in Kiev«, behaupteten sie, »und dein Mann mache Geschäfte mit Igor.«
»Mein Mann macht Geschäfte mit vielen Leuten.«
»Wir werden das Haus durchsuchen«, erklärte der Anführer der kleinen Gruppe kurz. Während das geschah, blieb der Anführer bei der Frau und den Kindern. »Wer ist das?« fragte er plötzlich und deutete auf Ivanuschka. »Ein junger Vetter aus Tmutorokan«, antwortete sie kühl. »David, komm her«, befahl sie ihm auf türkisch. Als Ivanuschka aufstand, winkte der Anführer ungeduldig ab. »Schon gut«, sagte er barsch.
1071
Es war Frühling, und in dem kleinen Ort Russka war alles still. Der Fluß war über die Ufer getreten, so daß außerhalb der Siedlung nicht zu erkennen war, wo die Marsch aufhörte und die Felder begannen.
Am Ostufer bestand das Dorf aus zwei kurzen schlammigen Straßen, die von einer dritten, längeren im rechten Winkel geschnitten wurden. Die Hütten waren aus Holz, Lehm und geflochtenen Zweigen. Manche hatten Dächer aus Rasensoden, andere aus Stroh. Um diese Ansammlung von Hütten war eine hölzerne Palisade gezogen, die eher einer Tierhürde glich als einem Schutz gegen Feinde. Im Norden lag ein kleiner Obstgarten mit Kirsch- und Apfelbäumen. Am waldigen Westufer befand sich eine höher gelegene Befestigung mit einer soliden Einfassung aus Eichenholz. Diese etwa achttausend Quadratmeter große Befestigung war fünfzig Jahre zuvor errichtet worden. Sie enthielt außer einigen langen, niedrigen Truppenquartieren und Ställen zwei große Lagerhäuser für die Kaufleute und eine kleine Holzkirche. Dieses Fort gehörte, wie der größte Teil des Landes, dem Fürsten von Perejaslavl. Etwa fünfzig Meter vom Eingang entfernt lag der
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