Russka
Friedhof. Daneben standen zwei steinerne Pfeiler, etwa zwei Meter hoch und so behauen, daß sie aussahen, als trügen sie große runde Hüte mit breitem Pelzbesatz. Das waren die Hauptgötter des Ortes: Volos, der Gott des Wohlstands, und Perun, der Gott des Donners. Denn trotz der Bemühungen der christlichen Priester des Fürsten hingen viele der Dörfer insgeheim noch den alten heidnischen Gebräuchen an. An diesem klaren Frühlingsnachmittag ging eine einsame Gestalt in Gedanken versunken am Friedhof vorbei. Wer Ivanuschka in den vergangenen drei Jahren nicht gesehen hatte, hätte ihn in dieser Gestalt nicht erkannt. Er war nun so groß wie sein Bruder Svjatopolk, dabei aber schmal und blaß. Er sah sorgenvoll drein, hatte dunkle Ringe unter den Augen: In diesen drei Jahren war alles schiefgegangen.
Zunächst hatte ein wichtiges Ereignis ihm nochmals Hoffnung gegeben. Er hatte fast einen Monat in Kiev verbracht, ehe Zhydovyn ihn abschob, weil er nach Polen ging. Da erfuhr er, daß sein Vater, verärgert über die Feigheit und den Verrat des Fürsten von Kiev, von seinem Recht, den Herrn zu wechseln, Gebrauch gemacht hatte: Er war in die druzina des jüngeren Bruders Vsevolod übergewechselt, der über Perejaslavl herrschte. Das schien ein Glücksfall. Nicht nur, daß Vsevolod als der beste und weiseste der regierenden Brüder galt – er hatte auch jenen Sohn Vladimir, dem Ivanuschka als Page zugesagt worden war. Sicher würde Vladimir nun, da Igor seinem Vater diente, nach Ivanuschka schicken. Aber nicht ein Wort kam. Auch Igor war überrascht. »Ich bin erst zu kurz in Vsevolods Diensten, als daß ich ihn darum bitten könnte«, gab er traurig zu. Svjatopolk diente mit seinem Vater. Boris ging an den Hof von Smolensk. Und obwohl der Vater versuchte, für Ivanuschka einen Platz in Tschernigov, Smolensk und sogar im fernen Novgorod zu finden – offenbar wollte ihn niemand. Ivanuschka glaubte den Grund zu kennen: Es mußte Svjatopolk sein. Wohin er auch kam, die Leute behandelten ihn freundlich, aber distanziert. Sie hielten ihn für einen Einfaltspinsel. Er konnte fast spüren, daß sie es dachten. Einmal hatte er Svjatopolk sogar darauf angesprochen: »Warum machst du mich überall schlecht?«
Doch der Bruder sah ihn nur spöttisch erstaunt an: »Sicher könnte nichts, was meine arme Zunge für oder gegen dich sagt, den Eindruck ändern, den du selbst machst.«
Mit der Zeit baute sich die Meinung der anderen wie ein Wall um Ivanuschka auf. Er begann alberne Dinge zu sagen und zu tun, wie hypnotisiert von der Meinung der anderen. Er fühlte sich wie in einer Falle.
Ein Jahr nach dem Umzug wurde Igor mit der Verteidigung eines Teilstücks der südöstlichen Grenze betraut. Und im Zentrum dieses Gebietes, das nun zu den Besitzungen des Fürsten gehörte, lag das kleine Fort Russka. Es war unbedeutend, eine der Dutzende kleiner Befestigungen in den Grenzländern. Igor hätte Russka sicher nicht mehr als einen flüchtigen Besuch abgestattet, hätte sein Freund Zhydovyn ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, daß die dortigen Lagerhäuser als nützliche Depots für die Waren dienen könnten, die sie immer noch mit Karawanen nach Osten zu schicken hofften. Und da Igor nicht wußte, was er sonst mit seinem Sohn anfangen sollte, sandte er ihn von Zeit zu Zeit dorthin, um Zhydovyn beim Eintreffen neuer Fracht zu helfen.
Er hatte an diesem Morgen in Abwesenheit des Chazaren eine Sendung Pelze in Empfang genommen. Irgendwie, ohne daß Ivanuschka es sich erklären konnte, waren zwei Fässer mit Biberpelzen abhanden gekommen. Nun erwartete er den Chazaren in Kürze zurück und wußte nicht, was er sagen sollte. Während er in düsteren Gedanken durchs Dorf ging, erblickte er den Bauern. Schtschek war untersetzt, vierschrötig, hatte ein rundes Gesicht mit breiten Backenknochen, sanfte braune Augen und einen schwarzen Haarkranz. Er trug ein Leinenhemd über der Hose, einen Ledergürtel und Bastschuhe. So plump der Körper auch wirkte, irgend etwas an diesem Mann ließ auf einen sanften, vielleicht auch hartnäckigen Charakter schließen. Er stand an der Ecke des Friedhofes und sah Ivanuschka aufmerksam entgegen.
Schtschek hatte einen sehr schlichten Gedanken: Es heißt, der junge Mann sei ein Dummkopf. Ob er Geld hat? Schtschek stand vor dem Ruin. Er war, wie die meisten seinesgleichen, ein freier Mann. Natürlich war sein Status bescheiden. Er war ein smerd, ein Angehöriger der Klasse der »Schmutzigen«. Doch
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