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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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ganz sicher. »Eines Tages wirst du mir gehören«, flüsterte er ihr zu, auch wenn sie ihn nicht hören konnte.
    Nikolaj Bobrov starrte traurig auf das lange Holzhaus, das ein Leben lang sein Zuhause gewesen war. Er konnte es kaum fassen, daß er Russka vielleicht nie wiedersehen würde. Die restliche Familie war schon im Juni, also vor einem Monat, abgereist – seine alte Mutter Anna, seine Frau und der junge Alexander. Sie waren jetzt alle in Moskau, während er noch einmal zurückgekommen war, um die letzten Reste ihres jahrelangen Aufenthalts hier wegzuschaffen.
    Gegen Mittag hatte er alles erledigt. Die drei Karren bei den Ställen waren von den Bauern hoch bepackt worden. Bei einem letzten Durchgang waren nur ein paar alte Kisten mit Papieren auf dem Speicher zum Vorschein gekommen. Nikolaj dachte, sie würden noch auf dem dritten Karren Platz finden. Er hatte verfügt, daß Arina und ihr Sohn vom Dorf heraufzogen und hier oben als Hausverwalter lebten. Sie würden sich gewissenhaft um alles kümmern. Als er einen Gang durch die Silberbirkenallee oberhalb des Hauses machte, wischte er sich eine Träne ab – was für ein hübscher Platz dies doch war!
    Nun jedoch atmete er tief durch und straffte sich. Er war ein Bobrov, und sein Abschied sollte würdevoll sein.
    »Es ist Zeit, ein neues Leben zu beginnen«, murmelte er. Nun ja, er war zweiundfünfzig, aber obwohl sein Haar grau war, blickten seine Augen klar, und seine Figur war immer noch ansehnlich. Er hatte vielleicht seinen Besitz verloren, aber es gab ja eine Zukunft. Die letzten drei Monate waren allerdings kaum vielversprechend gewesen. Die Duma erwies sich bei ihrer Versammlung als heilloses Durcheinander. Nikolaj hatte bei einem Besuch in St. Petersburg nur Streitereien erlebt. Die Mitglieder aus der Landbevölkerung hatten keine Vorstellung von dem, was zu tun war. Einige von ihnen betranken sich und stifteten Unruhe in den Kneipen. Das Verhalten seiner eigenen Partei, der liberalen Kadetten, entsetzte ihn allerdings noch mehr. Nachdem der Zar ihr Verlangen nach Massenumverteilung des Landes an die Bauern nicht berücksichtigt hatte, weigerten sie sich strikt, mit der Regierung zusammenzuarbeiten. Schlimmer noch: Während die Terroristen ihre Kampagnen in ganz Rußland fortsetzten, lehnten die Kadetten es sogar ab, die Gewalt zu verurteilen, bis die Regierung ihren Forderungen nachkam.
    »Ich bin Kadett«, beschwerte er sich nach seiner Rückkehr nach Moskau bei Suvorin. »Tausende von Menschen werden getötet. Wir liberalen sind angeblich dafür verantwortlich – ich verstehe das nicht.«
    Suvorin sah das von der philosophischen Warte. »Sie vergessen, lieber Freund, daß wir in Rußland sind«, meinte er. »Während unserer gesamten Geschichte haben wir nur zwei politische Richtungen gekannt: Autokratie und Rebellion. Die Sache mit der Demokratie und dem Parlament ist ganz neu für uns. Das braucht seine Zeit.«
    Nikolaj mußte jetzt gehen. Es waren nur noch die Kisten vom Speicher zu holen. Wenn sie bald aufbrachen, konnten sie bei Einbruch des Abends in Vladimir sein. Nikolaj wollte gerade ins Haus gehen, als er eine Gestalt den Hügel herauf auf sich zukommen sah. Überrascht erkannte er Boris Romanov. Ihn hatte er am wenigsten erwartet. Als er sich tags zuvor unten im Dorf von den Bauern verabschiedet hatte, war Boris ihm offenbar aus dem Weg gegangen. Seit langem war Nikolaj sich bewußt, daß Boris einen Groll gegen die Familie hegte. Er seinerseits hatte nichts gegen Boris. So ging er ihm entgegen, um ihn zu begrüßen. Sie trafen sich an der Hausecke. Nikolaj nickte dem Bauern freundlich zu, während Boris einige Schritte von ihm entfernt stehenblieb. Es war einige Zeit her, daß Nikolaj Boris aus der Nähe gesehen hatte. Auch er war ergraut, aber er sah kräftig und gesund aus. Die beiden bildeten äußerlich einen typischen Gegensatz: der Adlige mit Strohhut, offener Leinenjacke, Weste, Taschenuhr, Krawatte, und der russische muschik in weiten Hosen, Bastschuhen, rotem Hemd und breitem Gürtel, unverändert seit den alten Zeiten des goldenen Kiev. Zwei Kulturen, beide nannten sich russisch, und doch hatten sie nichts gemeinsam außer ihrem Landbesitz, ihrer Sprache und einer Kirche, die normalerweise keiner von den beiden besuchte.
    »Sie gehen also.« Der stämmige Bauer stand da mit hängenden Armen.
    »Wie Sie sehen, Boris Timofejevitsch«, antwortete Nikolaj höflich. Boris betrachtete das Haus, von wo aus Arina und der kleine Ivan

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