Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
herübersahen. Er nickte nachdenklich. »Wir hätten Sie schon längst ausräuchern sollen.« Die Methode, durch Vandalismus und Brandstiftung in den vergangenen Jahren viele Landbesitzer dazu zu bringen, ihr Land an Bauern zu verkaufen, wurde allgemein als »Ausräuchern« bezeichnet. »Jetzt hat Suvorin das Land, nicht wir«, fuhr Boris bitter fort.
    »Die Kadetten wollen die Landverteilung. Es gibt hier in der Gegend Staatsland, das Sie kaufen können, und es ist viel besser als meine armen Wälder«, sagte Nikolaj ruhig.
    Boris jedoch beachtete ihn nicht. »Die Revolution hat erst angefangen, sie ist noch nicht zu Ende«, sagte er leise. »Wir werden bald alles Land haben.«
    »Vielleicht. Ich muß jetzt gehen.«
    »Ja. Endlich gehen die Bobrovs. Also, leben Sie wohl, Nikolaj Michailovitsch.« Er tat einen Schritt nach vorn, und es sah so aus, als wolle er sich halbwegs freundlich verabschieden. Als Nikolaj ihm die Hand entgegenstreckte, schnitt Boris eine Grimasse und spuckte aus.
    Nikolaj zuckte zurück. Der Bauer zischte: »Gut, dich loszuwerden, du verdammter Bobrov. Und komm ja nicht zurück, sonst bringen wir dich um.«
    Mit diesen Worten ging Boris davon.
    Nikolaj war so entsetzt, daß er im Augenblick unfähig war, etwas zu tun. Ein Gefühl des Ekels, der Sinnlosigkeit überkam ihn. Er blickte zum Haus zurück und sah, daß Arina und der Junge ihn anstarrten. Die Bauern an den Karren beobachteten ihn ebenfalls gleichmütig. Haßten sie ihn vielleicht wirklich alle? »Wir fahren«, rief er mit aller Würde, die ihm zu Gebote stand. Gleich darauf saß er neben dem Kutscher des ersten Karrens, der den Hügel hinunterratterte. Er zitterte vor ohnmächtiger Wut und sah sich nicht mehr um. Erst als sie schon den halben Weg zum Kloster zurückgelegt hatten, fiel ihm ein, daß er die Kisten auf dem Speicher vergessen hatte. Er zuckte die Achseln. Es war gleichgültig. Sie konnten ebensogut dort bleiben. Und so gaben die Bobrovs den Besitz ihrer Vorväter auf.
    1907
    Im Alter von zwölf Jahren fand Dimitrij Suvorin die Welt wundervoll, auch wenn es Dinge gab, die er nicht verstand. Insbesondere, was mit seiner Mutter geschah.
    Er war ein merkwürdiger Junge, klein und schlank. Sein schmales Gesicht erinnerte Rosa manchmal an ihren Vater. Dimitrij war kurzsichtig wie Peter und trug eine Brille. Seine körperliche Zerbrechlichkeit wurde jedoch wettgemacht durch eine außerordentliche Wachheit in dem blassen Gesicht unter dem wirren schwarzen Haarschopf.
    Er war ein glückliches Kind. Obwohl die kleine Familie ganz auf sich bezogen lebte – die Eltern liebten einander sehr –, herrschte nie eine bedrückende Atmosphäre. Die drei wohnten in einer hübschen, ziemlich unordentlichen Wohnung mit hohen Räumen nahe dem Stadtzentrum. Das Gebäude hatte drei Stockwerke, und zur Straße hin war es mit cremefarbenem Stuck verziert. Im Hof, wo die Kinder spielten, stand ein Maulbeerbaum. In der Nähe befand sich die Malakademie und gleich daneben ein merkwürdiges Haus mit Glasdach, wo Fürst Trubetskoj, der Bildhauer, sein Atelier hatte. Es war herrlich, an warmen Sommerabenden durch die Stadt zu streifen. Das versnobte St. Petersburg mit seinen klassischen Fassaden war wohl das Haupt des Reiches, doch Moskau war immer noch das Herz. Obwohl die Stadt nahezu vierhunderttausend Einwohner hatte, war sie eine kuriose Mischung aus Industrie- und Moskoviter Zeitalter. Dimitrij verbrachte Stunden mit diesen Wanderungen durch die Straßen und auf den breiten, baumbestandenen Boulevards, die einen Ring um den Stadtkern bildeten; vorbei an den Kremlmauern, innerhalb derer man den silbrigen Klang der Kirchenglocken hören konnte. Manchmal kam es dem Jungen so vor, als wäre die ganze Stadt wie eine gigantische Komposition von Tschaikovskij, Mussorgskij oder einem anderen Großen der russischen Musik, die sich hier auf wundersame Weise in Stein verwandelt hatte.
    Als er vier Jahre alt war, hatten sich die ersten Anzeichen seines musikalischen Talents gezeigt. Seine Mutter bemerkte sie sofort. Im Alter von sechs Jahren erhielt er auf eigenen Wunsch Unterricht in Klavier und Geige. Als er sieben Jahre alt war, meinte der Vater: »Vielleicht wird er einmal ein Konzertpianist.« Im Lauf der Zeit stellte sich heraus, daß Dimitrij trotz seiner erstaunlichen Begabung fürs Klavier am liebsten selbst komponierte. Nun besuchte er mit seinen zwölf Jahren die ausgezeichnete Fünfte Höhere Schule in Moskau in der Nähe des Arbat-Platzes und

Weitere Kostenlose Bücher