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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Gesicht und stürzte, ohne zu überlegen, vorwärts, griff mit bloßen Händen nach der Glut und warf sie zurück in den Kamin.
    Als Frau Suvorin sich sozusagen in Popovs Armen fand, sah sie ihm ins Gesicht und entdeckte darin zu ihrem Erstaunen eine Spur von Zärtlichkeit. »Nicht bewegen«, sagte sie nur.
    Zwei Stunden später gab Alexander seine einsame Wacht in der feuchten Kälte auf. Er verstand das nicht. Dieser Teufel Popov war bei ihr; dafür konnte es nur einen Grund geben. Was, um alles in der Welt, soll ich nun unternehmen, überlegte er.
    1910
    Auf den ersten Blick vermittelte das Familienleben von Professor Peter Suvorin den Eindruck vollendeter Harmonie. Es herrschte allenthalben Betriebsamkeit. Dimitrij hatte nun zwei Musiklehrer und machte rasche Fortschritte. Karpenko war in die Kunstakademie eingetreten und hatte bereits den Ruf eines Burschen, dem ständig neue Ideen kommen. Vladimir unterstützte den jungen Mann nach Kräften, lud ihn häufig zu sich, wenn er bekannte Größen aus der Kunstwelt versammelt hatte, und stellte ihn mehreren Künstlern vor. Peter Suvorin selbst war höchst aktiv; in diesen Jahren verfaßte er sein klassisches Lehrbuch »Physik für Studierende«, das seinen Namen einer ganzen Generation russischer Schüler vertraut machte.
    Rußland erlebte eine ruhige Zeit. Das Volk hörte kaum etwas vom Leben des Zaren, seiner deutschen Gemahlin und seinen Kindern in ihren Privatpalästen in St. Petersburg.
    Dimitrij wußte, daß Stolypin und die Duma ihren Weg der langsamen Reform weiterverfolgten. Doch wenn er die Zeitungen las, gewann er den Eindruck, daß der große Minister, obwohl er Frieden und Wohlstand brachte, wenig Freunde hatte. »Die liberalen hassen ihn wegen seines scharfen Durchgreifens«, erklärte Vladimir, »und die Reaktionäre hassen ihn, weil sein Regierungssystem die Autokratie des Zaren zu schwächen scheint. Aber er wird ans Ziel gelangen«, fügte er hinzu.
    Für Dimitrij waren die Abende das Schönste, wenn alle zusammen um den runden Tisch saßen und die Tagesereignisse besprachen. Die Mutter bereitete Tee, der mit Himbeeren serviert wurde, und durch das offene Fenster konnte man den zart türkisfarbenen Himmel sehen. Karpenko wußte immer etwas zu erzählen. Er befand sich ständig in geistiger Hochstimmung, und es verging kaum eine Woche, ohne daß er eine neue kulturelle Entdeckung zur Veränderung der Welt nach Hause gebracht hätte. Um diese Zeit gab es viele Dichter in Moskau und St. Petersburg. Tatsächlich war Lyrik so populär, daß die Dichter sogar davon leben konnten. Eines Abends brachte Karpenko eine Gedichtsammlung mit, von deren Verfassern Dimitrij noch nie gehört hatte. »Es ist eine neue Schule«, erklärte Karpenko. »Sie benutzen keine Symbole und abstrakten Ideen mehr, sondern sie schreiben unmittelbarer, über ihre Erfahrungen.« Zwei von ihnen gefielen Dimitrij sofort: Ossip Mandelschtam und Anna Achmatova.
    Trotz Karpenkos Brillanz lernte Dimitrij während dieser Abende ein anderes Mitglied der engverbundenen Familie mehr und mehr schätzen; das war sein Vater. Peter Suvorin machte nie viele Worte, aber er saß mit seiner goldgeränderten Brille, die immer zur Nasenspitze rutschte, über einem Schriftstück oder sah sein Manuskript durch. Obwohl sein Haar ergraut und sein Gesicht von feinen Linien durchzogen war, wirkte er jünger als seine fünfundfünfzig Jahre. In seiner leisen Art hatte er doch alle Fäden in der Hand. Peter Suvorin hatte allen Grund, mit seinem zurückhaltenden, stetigen Kurs zufrieden zu sein. Die Bolscheviken hatten in den vergangenen zwei Jahren mit ihrem Extremismus wenig vorzuweisen. Polizeispitzel hatten sich in ihre Reihen eingeschlichen und erschwerten ihre Unternehmungen. Ihr einsamer Führer Lenin war anscheinend zum dauernden Exil in der Schweiz gezwungen, und ihre Mitgliederzahl hatte sich verringert. Dagegen hatten die gemäßigten Menscheviken-Sozialisten ihre Arbeit fortgeführt, sich allmählich Anhängerschaft in den Fabriken gewonnen, Gewerkschaften organisiert und Weiterbildung betrieben – meist ganz legale Aktivitäten. Manche waren auch zu einer Zusammenarbeit mit der Duma bereit. Es war sogar die Rede von einer Änderung des Parteinamens in »Arbeiterpartei«. Peter Suvorin war froh über das, was er seiner Familie gegenüber als Fortschritt bezeichnete.
    »Das neue Zeitalter bricht an«, war seine Redeweise, »aber nicht, weil Sie, Karpenko, oder so ein schlauer Bursche wie Popov es

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