Russka
Kriegsinvaliden.«
»Ich habe gehört, das Winterpalais sei beschossen worden.«
»Das stimmt. Das besorgte der Kreuzer ›Aurora‹. Sie hatten leider keine scharfe Munition, so gaben sie einen blinden Schuß ab.«
»Und dann?«
»Ach, sie gaben schließlich auf, und unsere Leute gingen hinein und plünderten.« Popov lachte leise vor sich hin. »Sicher erzählen wir diese Geschichte in den Geschichtsbüchern ein bißchen anders.«
Frau Suvorin sah Popov nachdenklich an. Sie hatten sich im vergangenen Jahr selten gesehen, fühlten sich aber immer noch zueinander hingezogen. Sie verstand, warum er im Augenblick des Triumphs eine Nachricht gesandt hatte, daß er sie an diesem Abend aufsuchen werde.
Ihr ging Verschiedenes durch den Kopf. Was würde dieser Wechsel politisch bedeuten? Einigen Menschen wurde großes Unrecht zugefügt, das wußte sie. Die Zivilverwaltung, die Banken und eine Anzahl von Körperschaften hatten sich der widerrechtlichen Machtergreifung der Duma durch Streiks entgegengestellt. Es war immer noch damit zu rechnen, daß Streitkräfte gegen die Bolscheviken eingesetzt werden würden. Die Petrograder Börse hatte überhaupt nicht reagiert; die Preise blieben stabil. Als erste Maßnahme verkündete die neue Gruppe, daß aller Besitz unter den Bauern aufgeteilt werden solle, doch das stand ja ohnehin schon fest. Frau Suvorin wußte sehr wohl, daß die Bauern den Besitz in Russka bereits besetzt hatten. Damit hatte sie sich abgefunden.
Wie aber stand es mit den beteiligten Männern? Über Lenin wußte sie Bescheid, auch über Trotzki, dachte sie. Sie fürchtete die beiden. Lunatscharskij dagegen, den Kultusminister, hatte sie kennengelernt und fand ihn gebildet und sympathisch. Andere Namen sagten ihr weniger. Einer vor allem, ein gewisser Stalin, Vorsitzender des Kommissariats für Nationalitätenfragen, war ihr gänzlich unbekannt.
Das führte ihre Gedanken zurück zu Popov. Selbst nach nunmehr zehn Jahren kannte sie ihn nicht wirklich. Manchmal hatte sie einen warm empfindenden Menschen in ihm entdeckt, dann wiederum hatte sie das Gefühl, er könnte unbarmherzig töten. Und ohne zu zögern, würde er lügen.
»Was wollt ihr denn gegen die Konstituierende Versammlung unternehmen?«
Er blickte sie überrascht an. »Die Wahlen sind schon anberaumt.«
»Werden sie stattfinden?«
»Selbstverständlich.«
»Nichts ist selbstverständlich. Woher soll ich denn wissen, daß dein Lenin kein Diktator ist?«
»Du hast mein Wort darauf.« Popov sah sie sehr ernst an. »Ich versichere dir, daß die Konstituierende Versammlung einberufen wird. Es ist ein Teil unseres Programms. Alle Entscheidungen dieser Regierung, die Landverteilung und alles andere, hängen von der Ratifizierung durch die Versammlung ab.«
»Kannst du das versprechen?«
»Das tue ich.«
1918
Am 5. Januar dieses Jahres trat die Konstituierende Versammlung in Petrograd zusammen. Da die Wahl gleich nach dem bolschevikischen Putsch stattgefunden hatte, war kaum zu widerlegen, daß die Ergebnisse den Willen des Volkes unter den derzeitigen Umständen widerspiegelten.
Von den 707 Mitgliedern gehörte die größte Gruppe mit 370 Mitgliedern der Bauernpartei, den Sozialrevolutionären, an. Die Bolscheviken mit 170 Mitgliedern wurden den kleineren Parteien zugerechnet. Auch die Menscheviken bildeten eine Partei; über hundert Mitglieder gehörten Randgruppen an oder waren an keine Partei gebunden. Die regierenden Bolscheviken waren mit nur 24 Prozent der Wählerstimmen in der absoluten Minderheit.
Die Konstituierende Versammlung beriet einen Tag lang. Lenin verfolgte das Geschehen von einem Balkon aus. Die Versammlung weigerte sich, die bolschevikische Regierung als höchste Macht anzuerkennen oder sich den Entscheidungen der Sowjets zu beugen. Noch an diesem Abend löste Lenin sie mit einem militärischen Aufgebot auf.
So erfreute sich Rußland, nach Jahrhunderten zaristischer Herrschaft und nach den Februar- und Oktoberrevolutionen, nur einen einzigen Tag der Demokratie. Popov unterrichtete Frau Suvorin schriftlich von der Entwicklung.
»Es ist schade, aber« – hier gebrauchte er eine ehemals liebevolle Titulierung des Zaren, die nun auf Lenin angewandt wurde –, »Väterchen mag die Demokratie einfach nicht.« Frau Suvorins Antwort an Jevgenij Popov lautete: »Du hast gelogen. Du hast es vorher schon gewußt. Es war alles geplant. Komme nie wieder hierher!«
Für die beiden Bobrovs war es an der Zeit wegzugehen; das stand
Weitere Kostenlose Bücher