Russka
dieser verdammte Rotschopf – Popov. Ihre Anhängerschaft hatte in letzter Zeit zugenommen dank ihres Propagandarufs: »Alle Macht den Sowjets« und dank schriller Leitartikel in ihrem Parteiorgan »Pravda«. Die Revolte wurde jedoch niedergeschlagen. Einer ihrer Führer, Trotzki, befand sich im Gefängnis. Ein zweiter, Lenin, war ins Ausland geflohen. Ein neuer Mann stand an der Spitze der Regierung, ein Sozialist namens Kerenskij. Mit der Wiederherstellung der Ordnung hatte er General Kornilov betraut. Langsam stieg Boris die Treppe hinauf. Während der letzten drei Monate hatte er voller Interesse das Hausinnere inspiziert. Es gab tatsächlich interessant aussehende Bücher und Gemälde hier. Den imposanten Flügel hatte er schon früher bewundert. Heute aber fiel ihm ein, daß er den Speicher noch gar nicht untersucht hatte.
Der lange niedrige Raum unter dem Dach war fast leer. An einem Ende standen jedoch ein paar verstaubte Schachteln unter einem kleinen runden Fenster. Er öffnete sie, ohne viel zu erwarten. Papiere. Alte Briefe, Rechnungen und anderer Kram der Bobrovs. Boris zuckte die Achseln. Er wollte sich gerade abwenden, als sein Blick auf ein Stück Papier fiel, das zwischen den übrigen Blättern herausragte und mit einem roten Bändchen umschlungen war. Er zog es heraus und fand darin, zusammengefaltet, einen Brief. Er war von Peter Suvorin unterzeichnet.
Es war ein Uhr morgens, und sie waren allein. Während der Moskauer Kreml immer noch standhielt, hatte es in der letzten Nacht, der Nacht zum 2. November, Straßenschlachten gegeben. Jetzt aber war es still in der Stadt. In Petrograd und in Moskau waren Lenin und seine Bolscheviken nun an der Macht. Waren sie es tatsächlich?
Popov lächelte Frau Suvorin zu, und trotz allem, was vorging, lächelte sie zurück. Sie fand, daß er jünger aussah. »Erzähle mir, was wirklich geschehen ist.«
Das welterschütternde Ereignis, bekannt als Oktoberrevolution, war, genaugenommen, alles andere als welterschütternd. Es war der verwegene Bubenstreich einer Minoritätenpartei, von der der größte Teil der Bevölkerung nicht einmal Kenntnis hatte. Seit der Abdankung des Zaren war Rußland unter einer merkwürdigen Doppelherrschaft durch das Jahr 1917 geschlingert: einer Provisorischen Regierung, die im Grunde wenig Macht hatte, und eines Rätekongresses, der zwar ein wachsendes Netz von örtlichen Basen in Fabriken, Städten und Dörfern, jedoch keine wirkliche Legitimität besaß. Für eine demokratische konstituierende Versammlung wären Wahlen notwendig gewesen, doch die Regierung, selbst als Kerenskij die Führung übernommen hatte, reagierte nur langsam. Mittlerweile brach die Wirtschaft zusammen, es herrschte Lebensmittelknappheit, und die Regierungsmitglieder verloren allmählich den Mut. Die Bolschevikische Partei gewann im Petrograder Rat allmählich an Boden. Anfang September hatten Trotzki und seine Bolscheviken im dortigen Rätekongreß die Mehrheit. Einige Tage später ergab sich die gleiche Situation in Moskau. Aufs ganze Land umgerechnet, waren sie allerdings in der Minderzahl. Es sah so aus, als würden die Bolscheviken mit der Zeit die dominierende Linkspartei werden; dann wiederum hielt man eher das Gegenteil für möglich. In dieser ziemlich unsicheren Situation brachte Lenin seine bolschevikischen Mitstreiter dazu, das Spiel um die unverzügliche Machtergreifung nochmals zu wagen. Es begann in der Nacht des 24. Oktober und wurde hauptsächlich von Trotzki geleitet, und zwar vom Smolny-Seminar aus – ehemals Kloster und Mädchenschule und nun Sitz der Petrograder Räte. Den ganzen Abend hatten die Verschwörer eine wichtige Berufung nach der anderen vorgenommen, sie sicherten oder übernahmen Posten, und nur wenige der abgelösten Arbeiter opponierten. Sie hatten alles versucht, um die militärischen Garnisonen auf ihre Seite zu ziehen, aber darum hätten sie sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn das Militär hatte wenig Lust zu agieren, und Kerenskij versäumte es, genaue Verteidigungspläne aufzustellen. Gegen Morgen waren fast alle Schlüsselstellungen der Stadt kampflos besetzt worden.
»Kerenskij versuchte außerhalb der Stadt militärische Unterstützung zu bekommen«, erzählte Popov Frau Suvorin, »aber er hatte wenig Glück. Die Minister der Provisorischen Regierung saßen weiterhin im Winterpalais mit einer Kosakenwache und – man stelle sich vor! – dem FrauenTodesbataillon. Und außerdem, du lieber Himmel, vierzig
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