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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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fest. »Es sieht so aus, als würden wir im modernen Zeitalter nicht mehr gebraucht«, meinte Alexander lakonisch. Das neue Zeitalter hatte, auch was den Kalender betrifft, begonnen, und zwar offiziell mit dem 31. Januar; denn am 1. Februar 1918 glich sich Rußland durch Regierungsbeschluß dem westlichen, dem Gregorianischen Kalender an und war somit nicht länger dreizehn Tage hinter der übrigen Welt zurück. Trotzdem löste sich Rußland, so sah es zumindest Alexander, auf die merkwürdigste Weise auf.
    Es herrschte weder Krieg noch Frieden. Es war ein Waffenstillstand mit Deutschland unterzeichnet worden, doch den von Trotzki ausgearbeiteten Bedingungen mußte noch zugestimmt werden. Die europäische Revolution, auf die einige, auch Lenin, gehofft hatten, blieb offenbar aus, und es gab alle Anzeichen dafür, daß das alte russische Reich auseinanderfiel. Im Norden hatten Finnland, Litauen und Lettland bereits ihre Unabhängigkeit erklärt. Polen im Westen würde mit Sicherheit verlorengehen. Im Süden war die formale Staatsgewalt über die Ukraine zusammengebrochen. Während aber die Bolscheviken versuchten, dort Macht auszuüben, hatten die ukrainischen Nationalisten bereits einen neuen ukrainischen Staat ausgerufen.
    Das Land gehörte dem Volk. Das Programm zur Verstaatlichung der Industrie wurde in Angriff genommen, und der orthodoxen Kirche wurde mitgeteilt, daß ihr gesamter Besitz konfisziert werde und sie alle Rechte verliere. »Innerhalb von sechs Monaten bauen wir einen sozialistischen Staat auf«, erklärte Lenin. Es sah so aus, als sollte er Erfolg haben.
    Auch wenn die Bolscheviken immer noch eine Minderheit darstellten, so waren sie doch zu allem entschlossen. Die Opposition war in keiner Weise organisiert. Lenin hatte einige Extremisten der Bauernpartei, die Terroristen, in seine Regierung eingeschleust, damit sie sich nicht gegen ihn stellten. Rotgardisten und andere Einheiten standen überall. In den Fabriken bildeten sich bolschevikische Zellen; und, was für die Bobrovs von großer Bedeutung war: In den vergangenen zwei Monaten war eine neue Organisation unter der Führung eines kaltblütigen Burschen namens Dserschinskij, die Tscheka, aktiv geworden.
    Die Außerordentliche Kommission zum Kampf gegen konterrevolutionäre Umtriebe, Sabotageakte und Dienstvergehen war ein höchst erfolgreiches Organ. Es war erstaunlich, was es alles herausfand. Anscheinend hatte sich eine Reihe politischer Gegner der Bolscheviken des politischen Aufruhrs schuldig gemacht, darunter viele der liberalen Kadetten. Sie wurden zu Volksfeinden erklärt. Nikolaj Bobrov hatte soeben erfahren, daß er dazugehörte.
    Alexander Bobrov ging langsam, gedankenverloren, vor sich hin. Er trug einen alten Mantel, eine Arbeitermütze und schwere Stiefel. Vor einem Monat hatte er sich entschlossen, sich wie ein Arbeiter zu kleiden. Sein Vater hatte sich versteckt. Ihre Flucht war von Vladimir Suvorin vorbereitet worden. Frau Suvorin sollte zuerst nach Finnland reisen und von dort aus in Etappen nach Paris, wo Vladimirs Sohn sie erwartete. Die beiden Bobrovs sollten sie, als Arbeiter verkleidet, begleiten. »Haltet euch bis zur Abreise versteckt«, riet Vladimir.
    Vladimir Suvorin, der Industrielle, befand sich in einer seltsamen Situation. Obwohl die Bolscheviken die gesamte Industrie verstaatlichen wollten, wußten sie nicht genau, was sie mit Männern wie Suvorin anfangen sollten. Wenn er mit seinem Wissen und seinen Verbindungen mitmachte, war er für sie vielleicht von Nutzen.
    »Sie wissen, daß Industrie und Finanzen weiterhin funktionieren müssen«, erklärte Vladimir Alexander. »Ich habe ja auch einen Freund im Kultusministerium, Lunatscharskij. Trotz allem glaube ich, daß ich dir in einigen Monaten folgen werde.« Nadeschda hatte trotz der Einwände des Vaters darauf bestanden, bei ihm zu bleiben, und Alexander war gerade eine Stunde zuvor gekommen, um sich von ihr zu verabschieden. Seit der Zeit in Russka, als er sich dort von seiner Verwundung erholte, waren sie einander sehr nahe gekommen. Zweimal hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, doch in all den Veränderungen, die um sie her geschahen, hatte sie ihn nur gebeten: »Nicht jetzt!« Alexander rechnete damit, daß sie und Vladimir innerhalb des nächsten Jahres nach Westeuropa kommen würden. »Paß auf dich auf, mein Aljoscha«, sagte sie und gab ihm zum Abschied einen innigen Kuß.
    »Hast du 'nen Glimmstengel?« Der Soldat stand vor ihm und sah ihn von unten

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