Russka
Sterbliche seinen eigenen Weg zu Gott finde.
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Langsam zog die mächtige Armee am Waldrand entlang, weiter an den Holzwänden, die mit den kleinen Forts eine Linie bildeten, hinaus auf die offene Steppe, wo sie etwa drei Meilen weit ausschwärmte.
Svjatopolk blickte finster drein. Obwohl er zur druzina des Prinzen gehörte, ritt er allein. Ab und zu glitt der Blick seiner dunklen Augen zu seinem Bruder hinüber, der in einigem Abstand ritt. Doch jedesmal wandte er den Blick rasch wieder ab, so als fühle er Angst oder Schuld. Und Schuldgefühl kann einen stolzen Mann gefährlich machen.
Es war jenes Jahr, in dem eine der größten militärischen Unternehmungen sich vom Lande der Rus nach Osten hin in Bewegung setzte. Sie wurde angeführt vom Fürsten von Kiev, zusammen mit seinen Vettern, dem Fürsten von Tschernigov und dem großen Vladimir Monomach, Fürst von Perejaslavl, und sie hatte den Sieg über die Rumänen zum Ziel.
Die Streitmacht hatte nur das warme Wetter und damit festen Boden abgewartet. Die reitenden und marschierenden Männer waren mit langen Schwertern und Krummsäbeln, mit gekrümmten Bogen und langen Speeren ausgerüstet, sie trugen Pelzmützen und Kettenpanzer. Dieser furchterregenden Horde auf ihrem Zug von Kiev nach Osten gingen Musikanten voraus mit Gongs und Trompeten, Holzpfeifen und Kesselpauken, dazu Sänger, Tänzer und Priester mit Ikonen.
Vor Svjatopolk ritten sieben Alanen. Neben ihnen ein Trupp Wolgabulgaren, seltsame Burschen, ferne Nachkommen der schrecklichen Hunnen, mit orientalischen Gesichtszügen und langem schwarzem Haar. Jetzt waren sie zum Islam übergetreten und von ihrer Handelshochburg an der Wolga zu Hilfe gekommen, um das lästige heidnische Steppenvolk aufzureiben. Wieder blickte Svjatopolk zu seinem Bruder hin, der neben Monomach ritt.
Ivan war nun in den Fünfzigern, ein bißchen stämmig geworden, rotgesichtig, doch immer noch leistungsfähig. Woher kommt es wohl, überlegte Svjatopolk, daß die Augen anderer Männer etwas über ihr Leben verraten: Entweder blicken sie unstet, durchtrieben, stolz oder müde, während Ivanuschkas blaue Augen immer noch so klar und offen sind wie in seinen jungen Jahren? Das ist keine Einfalt. Denn der Mann, der früher »Ivanuschka der Dummkopf« genannt wurde, hieß nun »Ivanuschka der Weise«. Und, verdammt noch mal, dazu ist er auch noch reich, dachte Svjatopolk. Das Glück ist seit langem auf seiner Seite.
Sie sahen sich selten. Zwanzig Jahre zuvor, als der alte Fürst von Kiev gestorben war und wieder eine durch Erbfolge bedingte Umsiedlung der Fürsten stattgefunden hatte, hatte Svjatopolk Monomach verlassen und sich dem Fürsten von Kiev angeschlossen. Ivanuschka war mit Monomach in Perejaslavl geblieben. Nun kämpften sie in derselben Armee.
Aber nur einer von uns, schwor sich Svjatopolk, wird lebendig zurückkehren.
»Endlich werde ich an den Don reiten«, sagte Ivanuschka zu seinen Söhnen. Es war merkwürdig, daß Gott ihm diesen Kindheitswunsch nun, in seinem siebenundfünfzigsten Jahr, erfüllte. Gott hatte ihm schon so viel gegeben.
Russka hatte ihn reich gemacht. Obwohl die Stadt durch kumanische Überfälle einige Male zerstört worden war, blieb der Eichenwald unangetastet, und Ivanuschka hatte inzwischen noch weiteren Besitz angesammelt.
Das Land der Rus weitete sich aus. Während die Fürsten Handel trieben und im Süden kämpften, kolonisierten sie weiterhin die riesigen Regionen im Nordosten, drangen in die dichten Wälder am Oberlauf der mächtigen Wolga vor. Die Rus hatten sich an vielen Stellen angesiedelt, angefangen von wichtigen Städten wie Tver, Suzdal, Rjazan und Murom bis hinunter zu befestigten Weilern wie Moskau.
Der Fürst von Perejaslavl kontrollierte die Gegend um Rostov und Suzdal, und in diesem Hinterland hatte er Ivan einen zweiten großen Besitz zugewiesen. Obwohl der Boden karg war im Vergleich zur schwarzen Erde des Südens, lieferte der Wald im Nordosten Wachs und Honig. Vor allem lag es fern von den wilden Steppenkriegern des Südens. »Denkt daran, daß eure Vorfahren die strahlenden Alanen, die Reiter der Steppe waren«, sagte Ivanuschka zu seinen drei Söhnen, »doch jetzt liegt unser Reichtum im Wald, der uns beschützt.«
Gott hatte ihm auch einen guten Herrn beschert: Vladimir Monomach. Man mußte Monomach einfach verehren. Der Fürst mit dem zur Hälfte griechischen Blut war in allem ein bemerkenswerter Mann: nicht nur ein tapferer Krieger und kühner Jäger, war er
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