Ruth
die
moabitische Festung, und die an jeder Straßenecke stehenden Soldaten gesehen
und die Moabiter klagen gehört hatte, daß ihr gesamtes Vermögen von Steuern
verzehrt würde, um immer neue militärische Vorbereitungen zu finanzieren, war
Machlon überzeugt, daß Boas recht hatte. Wenn Israel nicht bald auf seinen Rat
hörte, würde es in der Tat verloren sein.
Aber wenn dies zutraf, war er
dann eben nicht doch ein Verräter, der Schwerter für den Feind schmiedete? Die
Antwort schien unausweichlich, und dennoch hatte Jahwe an jenem Tag im Tempel,
als er ihn leicht hätte zugrunde gehen lassen können, helfend eingegriffen. Es
war schwer zu verstehen, aber die einzige Antwort schien die zu sein, daß es
der Wille Gottes war, wenn er hier lebte. Und da es Gottes Wille war, konnte
er, Machlon, nichts weiter tun, als seinem Urteil zu folgen.
Machlon war grübelnd den kaum
sichtbaren Pfad entlanggegangen, in dessen Nähe er und Kiljon am Tag ihrer
Ankunft Holz gesammelt hatten, und plötzlich fand er sich dem Götzenbild
gegenüber, das Kiljon so erschreckt hatte. Nachdem Machlon Kamosch gesehen
hatte, erkannte er die Statue auf dem Hügel sofort. Sie hatte den gleichen
schweren Körper und runden Kopf und die gleiche Hockstellung. Auch die
Vertiefung im steinernen Bauch war da, wo in der riesigen Statue im Inneren des
großen Tempels die ewigen Feuer des Kamosch brannten. Doch war das Götzenbild
hier nur doppelt so groß wie ein Mensch.
Machlon blieb bei der Statue
stehen und betrachtete die Stadt Heschbon. Er zuckte ein wenig zusammen, als er
das goldene Dach des Tempels erblickte. Jetzt, da er und seine Familie in
Sicherheit lebten, konnte er die Schönheit der Stadt in sich aufnehmen, mit
ihren luxuriösen Palästen und Tempeln, den Geschäften an den Straßen, in denen
kostbare Gewebe, zarte Stoffe in leuchtenden Farben, wie sie die Frauen trugen,
und Gegenstände aus Silber und Gold zum Kauf ausgelegt waren. Aber er konnte
den Tempel nicht ansehen, ohne sich an den grell klirrenden Ton von Metall auf
Metall und den langen, spannungsgeladenen Augenblick zu erinnern, bevor er
gespürt hatte, wie Hedaks Schwert auf seiner eigenen starken Klinge zerbrach.
Die Pracht Heschbons ließ
Betlehem tatsächlich als eine armselige Stadt erscheinen. Es war nur von einer
schwachen Mauer in unregelmäßigem Verlauf umgeben. Einfache Wohnungen und
Gebäude säumten die staubigen Straßen. Das prächtigste Haus in ganz Betlehem
war das Haus von Tob, dem Kaufmann, dem nächsten Verwandten Machlons. Tob
kaufte und verkaufte, handelte mit Karawanen aus Moab und Philistäa und
verschickte die Erzeugnisse Judas manchmal sogar bis weit in den Süden nach
Ägypten. Doch trotz seines Reichtums, so dachte Machlon jetzt, war Tobs Haus
beinahe weniger ansehnlich als die ärmlichste Unterkunft innerhalb der Mauern
von Heschbon.
Machlon wandte seine Augen von
der Stadt ab und blickte ins Tal und auf die hohen Berge, die es so gut wie
ganz einschlossen; die Schlucht, durch die sie gekommen waren, bildete den
einzigen Zugang zur Festung Moabs. Die Straße, die durch die Schlucht führte,
befand sich nur ein paar Meter unterhalb der Stelle, an der Machlon jetzt
stand. Er konnte beinahe hinuntergreifen und das aufgetürmte Gepäck einer
Karawane berühren, die sich in Richtung auf die Stadt zu bewegte. Er sah, daß
sie eine lange Strecke zurückgelegt haben mußte, denn Lasten wie Kamele waren
mit Staub bedeckt, und die Ledergeschirre, die während der langen Reise durch
die Wüstengebiete ausgetrocknet waren, knarrten bei jedem Schritt der Tiere.
„Du da oben“, rief eine
schrille Stimme herauf. Machlon blickte hinunter und sah einen kleinen Mann,
der in einen riesigen Mantel gehüllt war, von der Straße abbiegen und hastig
den Pfad hinaufklettern, so daß Sand und Steine auf die Karawane rieselten.
Erzog sich mühsam über den Felsenrand, hockte sich, nach Atem ringend, ein paar
Meter von Machlon entfernt nieder und riß sich den Mantel auf, um Luft zu
bekommen.
Der Ankömmling war klein und
dunkelhäutig mit einem dürren, sehnigen Körper und glänzenden schwarzen Augen.
Er trug einen Bart, und seine Gesichtszüge waren eher die eines Israeliten als
eines Mannes aus Moab. Seine linke Hand fehlte. An ihrer Stelle trug er einen
Metallhaken, der mit Hilfe einer Manschette und einer Schnalle aus gehämmertem
Messing am Armstumpf befestigt war.
Machlon erkannte die Manschette
und den Haken sofort, denn er hatte sie selbst angefertigt.
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