Ruth
glaubte, daß sich der Moabiter vor Zorn
auf ihn stürzen würde. Doch dann änderte sich Hedaks Ausdruck langsam, und sein
Ärger schien zu verfliegen. Seine Hand löste sich vom Griff seines Schwertes,
und er begann über seinen kunstvoll gelockten Bart zu streichen.
„Auch ich respektiere Boas“,
gestand er endlich. „Und aus unserem Treffen könnte sich etwas Gutes
entwickeln.“
„Dessen bin ich ganz sicher“,
stimmte Machlon eifrig bei, gar nicht verwundert über die plötzliche
Veränderung in Hedaks Verhalten. „Das Volk wird dir als seinem großen Führer,
der Frieden und freien Handel zwischen den israelitischen Stämmen und Moab
geschaffen hat, zujubeln.“
„Glaubst du, daß Boas nach
Heschbon kommen würde?“
„Cheb, der Händler, ist hier“,
sagte Machlon schnell. „Ich habe ihn heute gesehen. Laß eine Tontafel mit dem
Siegel des Königs anfertigen, die Boas sicheres Geleit nach Heschbon
gewährleistet. Cheb soll sie nach Betlehem bringen, und Boas kann mit der
nächsten Karawane eintreffen. Zusammen werdet ihr über die Einzelheiten für ein
Friedensabkommen zwischen unseren Ländern beraten. Dann kann Israel seine
Felle, Käse und Gerste gegen Dinge eintauschen, die von den Kunsthandwerkern
Moabs angefertigt worden sind.“ Und von seiner Begeisterung mitgerissen, fuhr
Machlon fort: „Du könntest sogar Karawanen aus diesem Land bis zum Großen Meer
aussenden und wie die nördlichen Stämme Israels mit den Philistern handeln.“
„Das sind vielversprechende
Aussichten“, stimmte Hedak so bereitwillig bei, daß es Machlon gewiß erstaunt
hätte, wäre er nicht ganz davon erfüllt gewesen, seinen Plan verwirklicht zu
sehen.
„Boas und ich waren in unserer
Jugend wie Brüder zueinander“, fuhr Machlon eifrig fort. „Ich werde selbst eine
Tafel anfertigen und sie Cheb mitgeben. Ich werde Boas sagen, daß er der
Einladung des Königs unbesorgt Folge leisten kann. Das sollte seine Zweifel
zerstreuen.“
„Du sprichst, als ob das alles
ganz einfach wäre“, meinte Hedak. „Aber vielleicht hast du recht.“
„Du wirst die Nachricht
bestimmt schicken?“
Hedak nickte. „Ich werde mit
dem König sprechen, und wenn er damit einverstanden ist, wird Cheb die Tafel
noch heute abend erhalten.“ Er wandte sich dem Tor zu, und Machlon ging ein
paar Schritte hinter ihm her. Nebo schien sich über einen geheimen Scherz zu
freuen, ließ aber niemanden daran teilhaben.
Am Tor angelangt, gab sich
Hedak jovial: „Du hättest Staatsmann werden sollen, Machlon. Unterdessen
brauchst du keine Schwerter zu machen, wenn es dich so bekümmert. Wie du sagst,
die Leute werden glücklich sein, wenn sie erfahren, daß es Frieden geben wird,
und du wirst guten Absatz für deine Hacken und Sicheln finden.“
Ruth hatte an einem Fenster
gelauscht. Als Hedak gegangen war, wandte sie sich gedankenvoll ab. Es hatte
keinen Sinn, in Machlon Zweifel wachzurufen, wenn er so sicher war, sowohl für
seine alte wie für seine neue Heimat Großes erreicht zu haben. Aber tief in
ihrem Inneren war sie ganz und gar nicht überzeugt von Hedaks Aufrichtigkeit.
Sie kannte den moabitischen Prinzen länger als Machlon und wußte, wie stark
sein Verlangen nach Eroberung war. Warum er allerdings so schnell einem
Friedensgespräch zugestimmt hatte, konnte auch sie noch nicht verstehen. Sie
war jedoch sicher, daß es für Hedak eigene Gründe gab, die mit Frieden ganz
gewiß nichts zu tun hatten.
Spät an diesem Abend ging Cheb,
der Händler, zum Palast Hedaks, dem er als Spion und Kurier diente. Er wurde in
einen Saal geführt, in dem der moabitische Feldherr mit seinem Hauptmann Nebo
beim Wein saß; beide schienen bester Laune.
Nachdem sich die Türen hinter
Cheb geschlossen hatten, goß Hedak Wein in einen Pokal und reichte ihn Cheb,
der ihn gierig leerte. „Ich bin geehrt, daß du mich gerufen hast, Herr“, sagte
der israelitische Karawanenführer unterwürfig.
Hedak lachte. „Du wirst dich
noch mehr geehrt fühlen, wenn du dich morgen auf den Weg nach Betlehem machst,
Cheb, denn du wirst deinem Ältestenrat eine Botschaft des Königs von Moab
überbringen. Sie ist auf dieser Tontafel enthalten, versehen mit dem
königlichen Siegel.“ Er übergab Cheb die Tafel, die mit einer Hülle aus dem
gleichen Material geschützt war.
„Eine Tafel?“ Cheb ergriff sie
mit der einen Hand und rieb sich die Backe mit dem Haken, der ihm als Ersatz
für seine Linke diente. „Etwas Derartiges habe ich bisher noch nie
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