Ruth
Hirtenflöte
mitgebracht, und während die anderen aßen, spielte er eine lebhafte, fröhliche
Melodie.
Ein paar Kinder waren aus der
Stadt gekommen. Sie wußten, daß für sie Reste übrigbleiben würden, nachdem die
Schnitter ihre Mahlzeit beendet hatten. Ein Knabe und ein kleines schlankes
Mädchen tanzten zu der fröhlichen Weise der Flöte. Einige Arbeiter sangen zur
Musik, andere klatschten den Takt dazu, während die jungen Männer die Mädchen
freimütig musterten.
Eine Gruppe scherzte mit Josko,
einem komischen kleinen Kerl mit Säbelbeinen und einem spärlichen Bart, der
sich selbst gern in der Rolle eines Frauenhelds sah. Josko war kein Schnitter,
sondern ein wohlhabender Landbesitzer. Aber seit er gestern zufällig auf die
Felder gekommen war und Ruth erblickt hatte, hielt er sich in ihrer Nähe auf,
starrte sie an und lächelte ihr zu, wann immer sie aufsah. Sie hatte ihn nicht
ermutigt, aber sie hatte sein Interesse auch nicht abgewiesen, denn sie sah,
wie Josko von den Schnittern geneckt wurde, ohne daß er es merkte. In gewisser
Hinsicht, stellte sie fest, waren sie beide Außenseiter: Josko wegen seiner
komischen Gestalt, seines spärlichen Bartwuchses und seines verhutzelten
Gesichts; sie, weil sie aus einem anderen Land gekommen war.
Ruth saß etwas von den Frauen
entfernt und aß von den Speisen, die Josko ihr mit überschwenglicher
Aufmerksamkeit gebracht hatte. Aber von ihrem Platz aus konnte sie Zelda hören,
die vor den anderen große Reden schwang.
„Mein Sohn wurde von einem
Moabiter getötet“, sagte die israelitische Frau. „Und ich sage euch, sie ist
eine...“
„Still, Zelda.“ Rachels Stimme
schnitt ihr das letzte Wort ab, aber Ruth wußte genau, daß es „Spionin“ oder
„Hure“ heißen sollte, Zeldas liebste Bezeichnungen für sie.
„Ich will nicht still sein“,
stieß Zelda hervor. „Und wenn wir alle verraten worden sind, dann wißt ihr, daß
ich die Wahrheit gesprochen habe. Falls dann überhaupt noch jemand von uns am
Leben ist“, fügte sie finster hinzu.
Verzweifelt, unglücklich und
allein starrte Ruth auf den Boden und hoffte, daß die Tränen, die hinter ihren
Lidern brannten, verborgen blieben.
Der Musikant hatte seine
Melodie beendet und hielt sein Instrument in die Höhe. „Husch!“ sagte er zu den
Kindern und scheuchte sie mit einem Schwung seiner Flöte auseinander. Das kleine
Mädchen, das getanzt hatte, hüpfte zu Ruth hinüber und betrachtete sie mit dem
freimütigen, direkten und abschätzenden Blick der Kinder, bis sie aufsah und
lächelte.
„Ich heiße Zimma“, sagte das
Kind. „Und du?“
„Ruth.“
„Du bist hübsch. Kann ich auf deinem
Schoß sitzen?“
„Natürlich.“ Ruth machte Platz
für sie. „Sitzt du bequem?“
„O ja.“ Zimma begann, Ruths
Haar zu untersuchen. Eine Strähne hatte sich unter dem Schal, der über ihre
Stirn gezogen war, gelöst. Sie versuchte, eine weitere Locke unter dem Schal
hervorzuziehen, und bevor Ruth gewahr wurde, was geschah, löste sich der
Verschluß, und das Tuch fiel über das Haar zurück.
„Oh“, schrie das Kind plötzlich
auf und deutete auf das Zeichen Moabs auf Ruths Stirn. „Was ist das?“
Beim Schrei des Kindes wandten
sich alle Augen auf Ruth und das heidnische Symbol, das in ihre Haut
eingebrannt war. Schnell befestigte sie ihren Schal, um das Mal zu verstecken,
aber sie konnte nicht übersehen, daß sich die anderen Frauen nach einem ersten
Schreck selbstgerecht anstießen, während das geflüsterte Wort „Moabiterin“ in
der heißen windstillen Luft des Mittags hing.
„Es ist besser, wenn du jetzt
gehst“, sagte Ruth rasch zu Zimma und ließ das Kind sanft von ihrem Schoß
gleiten. Sie lächelte unsicher und strich über Zimmas Kopf, dann hob sie ihre
Schürze auf und ging in Richtung des Feldes, auf dem sie Ähren gelesen hatte.
Boas war bei seinem
mittäglichen Besuch auf dem Feld gerade rechtzeitig angekommen, um Zeuge des
Vorfalls zu werden. Er wollte auf Ruth zugehen, aber im selben Augenblick kam
Josko auf seinen krummen Beinen zu ihm hinübergehüpft und brachte ihm einen
Becher Wein. Der kleine Mann war sehr aufgeregt.
„Ich habe in meinem ganzen
Leben noch nie so stark gefühlt, Boas“, plapperte er. „Vielleicht werde ich nie
wieder etwas essen.“
„Was ist los mit dir?“ fragte
Boas und lächelte seinen komischen Freund amüsiert an.
„Sie ist eine Göttin.“ Josko
deutete auf Ruth. „Sie ist — sie ist nicht sterblich, Boas. Ich bin
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