Ruth
gelang ihr ein
schwaches Lächeln, und sie ließ sich dankbar auf die Bank fallen, zu der Noëmi
sie führte.
„Ich habe nicht recht daran
getan, daß ich dich mit mir nach Israel kommen ließ“, sagte die ältere Frau
bekümmert.
„Du batest mich nicht
mitzukommen“, erinnerte sie Ruth. „Ich bin nur nicht gewöhnt, so zu arbeiten.
Und die Frauen hassen mich, weil ich keine Israelitin bin.“
„Sie hassen dich am meisten,
weil du schön bist.“
„Schau!“ Ruth öffnete ihre
Schürze. „Ich habe heute ein ganzes Ephah Gerste aufgesammelt.“
„Wo?“
„Im Feld des Boas.“
„Ich sah ihn heute morgen bei
der Mauer“, sagte Noëmi. „Er riet mir, dich wieder nach Moab zu schicken.“
„Das überrascht mich nicht“,
gestand Ruth. „Boas fällt es schwer, einer Frau zu vertrauen. Aber nach dem,
was er mit seiner Frau erleben mußte, darf man ihm keinen Vorwurf daraus
machen.“
„Er ist ein dickköpfiger Narr.
Aber wenigstens ist er großzügig. Er gibt uns Nahrung von seinem Feld und ein
Haus, in dem wir leben können.“
„Ein Haus! Wo?“
„Es ist nur ein kleiner Platz
in der Mauer neben der alten Weinkelter. Aber es ist ein Haus, das uns allein
gehört. Und jetzt, da du so viele Ähren gelesen hast, werden wir zu essen haben
und sogar etwas Öl für die Lampe.“
„Ich muß Boas danken, wenn ich
ihn wiedersehe.“ Ruth lächelte.
Noëmi sah sie aufmerksam an.
„Ich nähme es dir nicht übel, wenn du ihn hassen würdest.“
„Ich hasse ihn nicht, Noëmi“,
widersprach Ruth. „Die Zukunft seines Volkes lastet schwer auf Boas’
Schultern.“ Dann fügte sie leise hinzu, beinahe nur zu sich selbst: „Er war
sehr freundlich zu mir heute früh auf dem Feld, als wir uns beim Sternenlicht
trafen.“
8
Kaum war am nächsten Morgen die
Sonne aufgegangen, als Boas und Joseph durch die Felder ritten, in denen die
Schnitter eifrig an der Arbeit waren. Eine Reihe von Frauen lasen hinter ihnen
die Ähren auf. Wie sie es am Tag zuvor getan hatte, blieb Ruth ein wenig hinter
den anderen Frauen zurück. Allein suchte sie den Boden sorgfältig nach jeder
Gerstenähre ab, die aus den Händen der Schnitter fiel, wenn die scharfen
Sicheln die Halme fällten.
Joseph merkte, wie Boas’ Augen
von der schlanken anmutigen Gestalt angezogen wurden. „Es erscheint nicht recht,
oder?“ fragte er.
„Was erscheint nicht recht?“
„Soviel Jugend und Anmut. Und
sie ist so allein.“
„Nimm dich in acht! Sie macht
schnell Eroberungen.“
„Ich glaube, daß Tob und Ada
gestern gelogen haben, Boas.“
„Warum sollten sie?“
„Ich weiß es noch nicht. Aber
keiner der beiden tut jemals etwas ohne Zweck. Gib mir Zeit, und ich kann
vielleicht in Erfahrung bringen, worauf sie jetzt aus sind.“
Boas runzelte die Stirn, aber
er wies Joseph nicht zurecht, wie es der jüngere Mann halb erwartet hatte.
Statt dessen stieg er vom Pferd und schritt über das Feld zu Ruth hinüber. Sie
bemerkte ihn nicht, bis sein Schatten über sie fiel, dann blickte sie rasch auf
und wich ein paar Schritte zurück.
„Wovor fürchtest du dich?“ Die
Schärfe seiner Stimme ließ sie stehenbleiben.
„Vor nichts. Du hast mich
überrascht.“
„Sind meine Leute freundlich zu
dir gewesen, wie ich es befohlen habe?“
„Ja.“ Die anderen Frauen
hielten in ihrer Arbeit inne, um zu lauschen, aber als sie Boas’ Augen auf sich
gerichtet sahen, wandten sie sich schnell wieder ihrer Arbeit zu.
„Dann bist du glücklich in
Israel?“ fragte er mit leiserer Stimme, damit die Frauen ihn nicht hören
konnten.
„Glücklich?“ Ihre Wangen
röteten sich vor Empörung. „Wärest du glücklich, wenn dich die Leute ohne Grund
hassen und beschuldigen würden?“
„Vielleicht haben sie einen
Grund. Oder glauben, einen zu haben.“
Einen Augenblick lang sagte
Ruth nichts, aber ihre Augen hielten seinem Blick stand. „Willst du damit
sagen, daß es wirklich jemanden gibt, der Zeldas Geschwätz glaubt, daß ich eine
Spionin sei?“
„Man kann es ihnen kaum
verdenken. Du bist eine Moabiterin und aus freien Stücken hierher gekommen,
obwohl du unter den edomitischen Stämmen ein leichtes Leben hättest haben
können.“
„Da du alle Moabiter und alle
Frauen haßt“, sagte sie heftig, „bist du wohl auch ihrer Meinung?“
„Meine eigenen Empfindungen
spielen keine Rolle, Ruth.“ In seiner Stimme lag eine seltsame Zartheit,
beinahe wie am Morgen zuvor, als er noch nicht wußte, wer sie war. „Ich
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