Rywig 09 - Ich zähl die Tage im Kalender
Schweiz. In Graubünden. Nicht weit von St. Moritz.“
„Ach so. Wo alle Filmstars und Multimillionäre Winterurlaub machen!“
„Eben. Aber dorthin fahren wir also nicht. Pontresina ist nicht ganz so überlaufen wie St. Moritz.“
Wir schwiegen eine Weile. Ich empfand es so erschreckend deutlich, daß Bernhard und ich aus zwei verschiedenen Welten kamen. Eine Afrikareise als Anerkennung fürs bestandene Abitur, ein elegantes Auto, weil der Vater sich ein neues kaufte, Skiurlaub in der Schweiz, alles so selbstverständlich, so nebenbei erzählt. Dinge, die, wenn sie in meiner Familie vorgekommen wären, die Begebenheit des Jahres gewesen wären, worüber wir monatelang gesprochen hätten.
In der kleinen Stadt Plön parkte Bernhard den Wagen, und wir machten einen kurzen Spaziergang am Plöner See entlang. Da oben lag das schöne Schloß, einmal vom Herzog bewohnt, später wurde es ein Internat, da hatten also die kaiserlichen Söhne ihre Schulzeit absolviert.
Der Weg wurde enger. Bernhard legte den Arm um meine Schultern. Wir gingen durch den Wald. Wie müßte es hier wunderbar sein, wenn alles grün war, wenn die Frühlingssonne über den See strahlte!
Weit und breit kein Mensch. Nein, wer außer uns würde wohl auf die verrückte Idee kommen, an einem gewöhnlichen Montag, kurz vor Weihnachten, unter einem bedeckten Winterhimmel einen Waldspaziergang zu machen?
Aber es war schön! Diese Winterstille des Waldes, diese Ruhe, und immer der Blick auf den stillen See.
„Hier könnte ich stundenlang wandern“, sagte ich leise. „Eigentlich soll man immer das machen, wozu man Lust hat“, meinte Bernhard. „Das ist eins meiner wenigen Prinzipien. Aber in diesem Fall geht es leider nicht, wir müssen umdrehen, sonst kommen wir beide zu spät zu Mittag!“
„Was für ein angenehmes Prinzip!“ sagte ich. „Aber das kann ja nicht immer durchführbar sein!“
„O doch. Für mich ist es gerade jetzt durchführbar. Ich kann gerade das tun, wozu ich augenblicklich Lust habe!“
Sein Arm legte sich fester um mich, mit seiner linken Hand faßte er unter mein Kinn. und dann küßte er mich.
„Kleine Heidi“, flüsterte er. und küßte wieder. und wieder.
Kurz danach saßen wir nebeneinander im Wagen. Bernhard drehte den Kopf, strich schnell über meine Wange und dann startete er.
„Kommst du morgen früh zur Brücke?“ fragte er.
„Wenn du willst. Es gibt ja nichts mehr zu fegen.“
„Nein, die Rowdys haben wohl eine andere Gegend gefunden, wo sie die Leute ärgern können. Oder vielleicht ist es ihnen zu kalt. Aber kannst du nicht trotzdem kommen?“
„Ohne die gute Tat des Tages zu erledigen?“ schmunzelte ich.
„Du kannst eine andere gute Tat vollbringen. Nämlich Hasso und mir Gesellschaft leisten.“ Plötzlich lachte Bernhard laut.
„Lachst du über mich?“
„Nein, über mich! Ich denke an unsere erste Begegnung, damals als ich glaubte, du gehörtest zu der Rowdybande!“
„Und ich dachte dasselbe über dich!“
„Eins steht fest“, sagte Bernhard und hielt vor einer roten Ampel. „Wir sind bestimmt zwei reizende junge Menschen, aber Menschenkenner. das sind wir nicht!“
Ein Netz von Lügen
Ich saß im Bus und fuhr nach Hause. Es war Abend und ich hatte meinen ersten Nachmittag als Putzfrau hinter mir. In der Tasche lag mein erstes selbstverdientes Geld. Es war ein erhabenes Gefühl!
Das Gefühl, daß ich heute die Vorlesungen geschwänzt und kein Buch aufgemacht hatte, war weniger erhabend. Ich hatte ein dickes Lehrbuch über Anatomie bei mir, um die Zeit im Bus auszunutzen. Als ich das Buch aufmachte, fiel etwas raus. Es war der Brief von Mutti, der, den ich so verzweifelt gesucht hatte, sogar in der Mülltonne.
Dann mußte ich wieder an die abgeschnittenen Strumpfhosenbeine denken - und an Xenia, die so wütend, so furchtbar unbeherrscht gewesen war.
Da gab es Menschen, auch Studenten, die ein eigenes, elegantes Auto hatten.
Es gab andere, die aus Mülltonnen Kleidungsstücke holten. Es gab Menschen, die eine Afrikareise für das bestandene Abitur bekamen.
Es gab andere, die keine Handschuhe besaßen und immer rote, eiskalte Hände hatten.
Es gab junge Menschen, die in die Schweiz fuhren und über Weihnachten Skiurlaub machten.
Und dann gab es jedenfalls einen Menschen, einen jungen, neunzehnjährigen Menschen, der den Heiligen Abend ganz mutterseelenallein auf der Studentenbude verbringen mußte.
Zwei Welten. Ein Student mit sorglosen, fröhlichen Augen, mit einem
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