Rywig 10 - Machst Du mit Senta
die Beherrschung, und ich fürchte, ich habe viel gesagt, was ich nicht hätte sagen sollen. Ich rief in meiner Verzweiflung: ,Ich habe dir das Leben geschenkt, und ich erlaube nicht, daß du es zerstörst’, - und dann - dann antwortete sie, eiskalt: ,Du hast es mir geschenkt, aber mein Leben gehört mir und ich mache damit, was ich will. Es ist auch mein Recht, ihm ein Ende zu machen!’“
„Frau Lander“, sagte ich und drückte ihre Hand. „So was sagt man in der Aufregung. Oh, man sagt oft soviel, was man gar nicht meint. Man sagt so was, aber man macht es nicht!“
„Sie kennen Isabel nicht“, flüsterte Frau Lander. „Sie war immer so - so kompromißlos. Wenn sie sich für etwas einsetzte, dann immer ganz! Immer hundertprozentig! Als sie sich noch für die Schule interessierte, arbeitete sie so zielbewußt, so - ja eben wie ich sagte, so hundertprozentig! Wenn sie einen Menschen lieb gewann, dann auch hundertprozentig. In ihren Freundschaften war sie auch so. Und wenn sie enttäuscht wurde, knickte sie zusammen. Sie war hundertprozentig dabei in Freude und Glück, und deswegen trafen sie die Enttäuschungen auch hundertprozentig. Verstehen Sie das?“
„Ja, Frau Lander. Ich verstehe es.“
„Dann verliebte sie sich. Sie leuchtete vor Glück. Und für diesen Mann war sie auch hundertprozentig da! Ohne Kompromisse, ohne Diplomatie, ohne Komödiantenspiel. Was sage ich - Mann? Ein Junge war er, achtzehn Jahre, sie war damals sechzehn. Sie erzählte uns kaum etwas, wir sahen nur, daß sie glücklich war, daß sie etwas hatte, was ihr ganzes Dasein mit Glück erfüllte. Und dieses Glück spiegelte sich überall. Sie war so lieb zu uns Eltern, so hilfsbereit und nett zu allen Menschen, oh, wenn Sie sie damals erlebt hätten! Aber dann - dann brach alles zusammen. Warum dieser Junge sie sitzen ließ - ich weiß es noch nicht. Vielleicht war sie ihm zu offen, zu wenig spannend. Nicht raffiniert genug. Keine Spur von Koketterie. Immer aufgeschlossen, immer hellhörig für seine Wünsche und Vorschläge. Eben - hundertprozentig. Als er sie dann verließ, brach sie vollkommen zusammen. Auch in ihrer Verzweiflung war sie hundertprozentig. Oh, wenn sie sich nur ausgesprochen hätte, wenn sie zu ihrer Mutter gekommen wäre! - Ist es nicht merkwürdig, daß junge Mädchen, wenn sie Probleme haben, immer gerade die Person meiden, die sie am innigsten liebt, die alles, aber auch alles tun würde, um zu helfen? Warum ist es so? Ist es Ihnen auch so ergangen?“ „Nein“, gab ich zu. „Erstens habe ich keine ernsten Probleme gehabt, zweitens habe ich eine junge Stiefmutter, die ich als Freundin
betrachte und mit der ich immer reden kann.“
„Ja, sehen Sie - junge Mädchen brauchen oft eine Freundin eher als eine Mutter. Aber warum? Mein Herz blutet für mein Kind, ich hätte alles für sie tun können - aber sie ließ mich nicht ran! Wie das mit dem unglückseligen Alkohol begann - ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, wo oder durch wen sie daraufkam. Aber sie merkte wohl, oder meinte zu merken, daß so ein Rausch für ein paar Stunden irgendwie betäubend wirkte. Oh, ich weiß nicht, Frau Senta, ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß es immer schlimmer wurde, sie machte sich abhängig von dem Zeug. Sie ließ nach in der Schule, sie war in der Obersekunda und sie wollte studieren, und plötzlich machte sie Schluß. Ihr Vater und ich versuchten mit ihr zu reden, fragten, was für Zukunftspläne sie hätte, was sie tun wollte, flehten sie an, doch weiterzumachen. Nichts nützte. ,Ich habe keine Lust’, war die Antwort. Oder: ,Ich schaffe es doch nicht. Ich kann nicht mehr lernen.’ Wir paßten auf sie auf, versuchten, sie fern von dem Alkohol zu halten, aber sie wurde schlau, fand immer einen Ausweg. Sie haben es ja selbst miterlebt, im Flugzeug - und dies ist es, wofür sie sich jetzt hundertprozentig einsetzt: sich den täglichen Alkohol zu verschaffen! Sie hat sich daran gewöhnt, sie ist eine Sklavin des Alkohols geworden, sie kann ihn nicht mehr entbehren! Verstehen Sie, was das für Eltern bedeutet?
Was haben wir an schlaflosen Nächten verbracht, wie haben wir geredet, uns überlegt. Dann kam meinem Mann diese Idee: eine weite Reise, neue Umgebung, neue Menschen, eine Reise, weit weg, so weit wie möglich. Vor ein paar Jahren hatten wir ein Buch über British Columbia gelesen, und Isabel war brennend interessiert. Ich weiß noch wie sie sagte: ,Wenn ich einmal viel Geld habe, fahre ich nach Kanada,
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