S - Spur Der Angst
schon. Diese Gegend in den Siskiyou Mountains wird bei der Schneeschmelze häufig von Überschwemmungen heimgesucht.«
»Macht Ihnen die Abgeschiedenheit nichts aus?«, fragte Jules, die spürte, wie winzige Eiskristalle in ihr Gesicht schnitten.
»Ich kann aufrichtig behaupten, dass ich auch im Winter gern hier bin. Die Lage der Blue Rock Academy ist geographisch betrachtet gewiss eine Herausforderung, aber wir sind auf alle Eventualitäten vorbereitet. Wir könnten vermutlich sogar einen Nuklearangriff überleben.«
Vorbereitet auf alles, abgesehen von verschwundenen Schülern und Mördern, hätte Jules am liebsten erwidert. Die Frau schien sich wirklich etwas einzubilden auf die Unverwüstlichkeit von Blue Rock.
»Ich glaube, es gibt sogar einen Atomschutzbunker auf dem Gelände, obwohl ich ihn noch nie gesehen habe.« Charla lachte und erklärte, dass das Institut mit seinen Vorratslagern, den beiden Generatoren und den gewaltigen Behältern mit Propangas und Benzin autark sei. Es gab eine Radio- und Funkstation sowie die Krankenstation. Zwar befand sich unter den Angestellten kein Arzt, doch Schwester Jordan war eine examinierte Krankenpflegerin, und Kirk Spurrier, der Pilot, war einst als Rettungssanitäter im Einsatz gewesen. Damit schien für Charla King, die Jules strahlend über die beschlagenen Gläser ihrer randlosen Brille hinweg anblickte, die medizinische Grundbetreuung an der Schule gesichert zu sein. Jules war da anderer Meinung, aber sie hielt den Mund und nickte, die Kapuze ihrer Daunenjacke fest unter dem Kinn zusammenhaltend. Ihre Zehen wurden trotz der warmen Socken in den Winterstiefeln langsam taub.
Auf ihrer Runde über den Campus fragte Jules: »Wie lange sind Sie schon hier?«
»Im April sind es bereits achtzehn Jahre«, erwiderte die Frau stolz. »Ich war die Erste, die Reverend Lynch an Bord geholt hat. Ich habe ihm beim Aufbau des Instituts und der Auswahl der Kollegen geholfen. Damals, als die Schule noch neu war, hatten wir nur wenig Personal.«
»Und was war hier vorher?«
»Oh, das Gelände war in einem fürchterlichen Zustand. Baufällige Gebäude, keine richtige Straße, nichts als Wildnis. In den späten Vierzigern wurde es einer Kirche gestiftet, für Tagungen und Familienfreizeiten, aber die Einrichtungen waren völlig heruntergekommen. Ich glaube, der Vater des Reverends war als Kind hier, und später hat er seinen Sohn mit hergenommen zum Jagen und Fischen. Jahre später, als Reverend Lynch die Idee hatte, ein Institut für problematische Jugendliche zu gründen, muss ihm dieser Flecken Erde als der perfekte Ort dafür erschienen sein. Abgeschieden und idyllisch, nahe bei Gott. Er hat Investoren aufgetrieben und hart für die Erfüllung seines Traums gearbeitet. Jetzt ist die Blue Rock Academy ein Vorbild für Schulen im ganzen Land, wenn nicht gar in der ganzen Welt«, schloss sie stolz.
»Und Mrs. Lynch ist ebenfalls ein fester Bestandteil des Ganzen?«, erkundigte sich Jules und dachte an den Streit zwischen dem Reverend und seiner Frau, den sie mit angehört hatte.
»Aber natürlich.« Charlas Augen verloren für einen kurzen Moment ihre Lebhaftigkeit, doch dann strahlte sie wieder. »Der Vater von Mrs. Lynch, Radnor Stanton, war einer der Hauptinvestoren, ein Philanthrop. Ein Entrepreneur. Hat sein Vermögen in der Frachtbranche gemacht.« Sie machte eine beiläufige Handbewegung, als wäre Stantons Wohlstand nicht weiter von Bedeutung.
Doch er erklärte die Villa in Seattle. »Ich nehme an, er ist verstorben?«
»Vor zehn Jahren, leider«, erwiderte Charla. »Er war ein guter Mann. Jemand mit Weitsicht, genau wie der Reverend.«
»Und wie Reverend McAllister?«, platzte Jules heraus.
Die ältere Frau seufzte. »Er ist … anders. Der Vorstand wollte offenbar das Personal verjüngen, und er stand zur Verfügung, doch er ist der Ansicht, die Schüler sollten« – sie malte mit ihren behandschuhten Fingern Anführungszeichen in die Luft – »sich selbst verwirklichen. Ihre eigene, ganz persönliche Beziehung zu Gott aufbauen. Er scheint Ordnung und Führungsgrundsätze abzulehnen.« Sie warf Jules einen Blick zu. »Wie ich schon sagte, er ist eben anders.«
»Ich weiß, was Sie meinen. Unkonventionell.«
»So kann man es auch nennen.«
»Kommen die beiden Geistlichen denn gut miteinander zurecht?«
»Reverend Lynch pflegt zu sagen: ›Viele Wege führen zu Gott.‹«
»Und Mrs. Lynch ist derselben Meinung?«
»Cora Sue? Wer weiß das schon?«,
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