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Saat der Lüge

Saat der Lüge

Titel: Saat der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Jones
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aber nicht davon abhält, mit Höchstgeschwindigkeit an zweireihig geparkten Autos und Buskolonnen vorbeizuschießen.
    Die Dörfer erstrecken sich entlang der ansteigenden Straße, und hinter den steinernen, bergan geneigten Häuserreihen ragen zu beiden Seiten die Hügel auf wie drohende Flutwellen. Das Holpern und Schleifen, wenn man ein Schlagloch erwischt, das Herz, das einem in die Hose rutscht, wenn man im letzten Moment auf die Bremse tritt – das alles gehört zur Erwartungshaltung.
    Man ignoriert die Jugendlichen mit ihren rasierten Köpfen und Bomberjacken und fährt immer weiter nach Norden, biegt weder links noch rechts ab, bis man sich irgendwann zu fragen beginnt, ob die Straße wohl je ein Ende nehmen wird. Die Reste uralter Waldgebiete schmiegen sich an die Berghänge, die im Herbst eine grelle Fotomontage aus gelb gewordenem Gras, leuchtend orangefarbenen Farnen und glühendem Heidekraut bilden, aus der glänzend schwarze Schieferplatten und akkurat gezackte Tannen hervorragen, die im Sommer zu rauchen scheinen und deren höchste Wipfel den Himmel streifen. Eine schöne Landschaft. Jedenfalls solange man nur einen beiläufigen, flüchtigen Blick darauf wirft.
    Auf der rechten Straßenseite weichen die Häuserreihen Fabrikgebäuden, die sich im Sommer diskret hinter Laubbäumen verstecken. Ein mickriger Fluss schlängelt sich durch die Schlucht unterhalb der Straße. Früher war er schwarz, aber als die Hügel wieder grün wurden, wurde auch er wieder sauber und klar.
    Hoch über dem Fluss, wo früher das Bergwerk war, kauert meine Schule, ein Siebzigerjahrebau aus quadratischen Fertigbauklötzen in Schwarz, Weiß und Grau. Er geht über drei Etagen, erstreckt sich über zwei Grundstücke und liegt genau dort, wo die Häuser enden und freien Blick auf das letzte Dorf im Tal gewähren. Dahinter geht die Sonne in der Wiege unter, die die Berge bilden.
    Es war schon immer eiskalt dort oben. Im Winterhalbjahr peitschten Regen und Wind um jeden Zentimeter des Gebäudes und des Schulhofs.
    Aber nach dem Englischunterricht am Mittwoch wurde Hockey gespielt, und ich war ein robustes Kind, das viel an der frischen Luft war, das seine Bücher, seine Geige und seine Turnsachen bei jedem Wetter mit sich herumschleppte, das sich nur vom Fahrradfahren abhalten ließ, wenn es schneite, und das auf Pappkartons die Hänge hinunterschlitterte, wenn das Sommergras vor Trockenheit ganz rutschig war, hinein in die samtweiche Dunkelheit des Abends, bis die Mütter ihre Kinder zum Essen hereinriefen.
    Cora und Mike wussten nichts von diesem Leben. Ich hatte sie nie mit nach Hause genommen. Nicht etwa weil ich mich schämte, wie ich lange geglaubt hatte, sondern weil ich mir meiner neuen Persönlichkeit nicht mehr sicher sein konnte, wenn ich hier war. In der Stadt hingegen hatte ich oft das Gefühl, den Klang meiner wahren Stimme vergessen zu haben. Zu geübt war ich inzwischen darin, sie nach Bedarf ausdruckslos, schrill oder weich klingen zu lassen.
    Zu Hause hieß ich Beth, nie Lizzy. Erst Cora fing an, mich Lizzy zu nennen, und ich war froh über die Umbenennung. Beth hatte nicht viel zu bieten. Sie besaß zu wenig Selbstvertrauen, war eine Streberin, sehnte sich nach Freunden und hatte Angst davor, Teil der Welt aus Bier, Müll, Lippenstift, Rugby und Arbeitslosigkeit zu werden, die sich um sie herum ausbreitete, bis weit über die Gruben und Fabriken hinaus. Also suchte sie Erlösung in ihren Büchern und ertrank in ihnen.
    Als Evans English am Tag vor ihrem vierzehnten Geburtstag ihren Stephen-King-Roman in den Papierkorb warf und sagte: »Diesen Müll solltest du nicht lesen«, begannen sich die Dinge für Beth zu ändern.
    Evans English, mit seinen knapp eins sechzig und seinem strengen Blick über der schwarzen Hornbrille die perfekte Verkörperung des walisischen Schulmeisters längst vergangener Tage, verschwand daraufhin im staubigen, vollgestopften Lagerraum der Schule, wo er nicht nur Stifte und Schulhefte aufbewahrte, sondern auch seine Whiskeyflaschen. Dann tauchte er mit Tess von den d’Urbervilles, Jane Eyre, Eine Geschichte aus zwei Städten, 1984 und Jahrmarkt der Eitelkeiten wieder auf.
    Von diesem Moment an boten Wörter den Zugang zu neuen Welten, ermöglichten kühne Träume, wurden zum Schutzpanzer. Vielleicht erblickte Lizzy schon damals das Licht der Welt und wartete nur noch auf den richtigen Augenblick, sich zu manifestieren.
    Der Park, mein Park, lag gleich neben der Schule, unterhalb von

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