Saat der Lüge
Außerdem wollte ein Teil von mir unbedingt sehen, wo und wie Jenny aufgewachsen war, um ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen und etwas zu sehen, das auch Mike gesehen haben musste.
»In den Kisten sind auch andere Sachen. Sie wollte sie holen, sobald sie sich in ihrer neuen Wohnung eingerichtet hatte, aber … dazu ist es nie gekommen. Sie ist nie wieder hergekommen.«
Sein Kinn zitterte. Eine weitere Träne tropfte auf seine Strickjacke.
»Gehen Sie ruhig hoch, mein Kind. Das Zimmer ganz hinten. Ich komme gleich nach. Ich glaube, er braucht sein Inhaliergerät«, raunt sie, wenngleich recht laut. »Geben Sie uns ein paar Minuten Zeit.«
In der Abstellkammer am Ende des Flurs riecht es nach Damenparfum. Ich finde nur den üblichen Plunder: Kuscheltiere, mehrere Handtaschen, ein Paar Winterstiefel, Küchenaufbewahrungsbehälter in verschiedenen Größen, einen Wok. Relikte aus der Studienzeit. Und Bücher. Die ganz normale Literaturstudentenkost, billige, farbenfrohe Taschenbuchausgaben von Klassikern, eine Arden-Shakespeare-Sammelausgabe, eine Norton-Anthologie. Und dort, ganz oben auf der Kiste, liegt eine zerknitterte Ausgabe von T. S. Eliots Gesammelte Gedichte.
Ich lächle unwillkürlich, und eine flüchtige Erinnerung bringt mich dazu, den Band in die Hand zu nehmen, übers knisternde Deckblatt zu streichen und die zerfledderten Seiten durchzublättern. Dann fällt mir der Eliot-Band mit dem Füllfederhalter und den unterstrichenen Versen ein, den ich in Jennys Wohnung gesehen habe. Diese Ausgabe ist viel älter und abgenutzter, aber ein finsterer Instinkt veranlasst mich dazu, sie dort aufzuschlagen, wo sie von ganz allein auseinanderfällt. In der Doppelseite, auf der J. Alfred Prufrocks Liebesgesang beginnt, steckt eine Postkarte, die eselsohrige Abbildung eines Monet aus dem National Museum in Cardiff. Die verschwommenen Farbkleckse eines seiner Seerosenteiche sind unverkennbar.
Ich starre lange auf die Postkarte, bevor ich es wage, sie umzudrehen, aus Angst vor dem, was ich auf der Rückseite finden werde. Dort stehen folgende Zeilen:
Worte in Ritzen und Falten
erfüllen unsere innere Leere,
die offenen Jahre des Schweigens,
die versprochenen Geschichten;
sie entwirren die Wahrheiten,
packen sie mit den Zähnen,
krümmen sie mit den Fingern, bevor sie windwärts fliegen.
Mit unseren gestohlenen Stimmen stehlen wir das Ende,
schon wieder.
Ich streiche mit den Fingern über die Worte und vermeine ihr Murmeln zu hören, während ich gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfe. Es sind meine Worte, der Versuch einer Neunzehnjährigen, etwas poetisch Tiefgründiges zu verfassen. Der Kreis schließt sich. Ich halte plötzlich wieder meine Vergangenheit in der Hand, in einem fremden Gästezimmer, Meilen und Jahre von Zuhause entfernt.
Dieses Gedicht hatte ich an einem sonnengesprenkelten Nachmittag auf den Rand meines Ringbuchs gekritzelt, in der Unibibliothek, wo ich eigentlich für Lyrik Teil I hatte büffeln wollen, obwohl meine Gedanken die ganze Zeit um das Gespräch kreisten, das Mike und ich eine Stunde zuvor im Wohnheim über Eliots »Meergewölbe« geführt hatten, während Cora Kartoffeln pellte.
Ich hatte diese Zeilen nie jemandem gezeigt. Das wäre mir peinlich gewesen. Aber ich hatte Mike oft Bücher geliehen, genau wie er mir. Bücher waren die Währung unserer offen eingestandenen Zuneigung und unserer unbewussten Lügen, sie wechselten wöchentlich, manchmal täglich, zwischen uns hin und her. Es war, als würde man Wasser auf ausgedörrtes Land gießen, das nie genug davon bekam. Am unteren Rand der Postkarte hatte eine andere Handschrift – nicht meine, auch nicht Mikes – ergänzt: »verfasst von Michael Matthews«.
»Eins ihrer Gedichte«, sagt Mrs Morgan, die keuchend hinter mir aufgetaucht ist und im Türrahmen nach Luft schnappt, während sie den Rücken durchdrückt und sich mit den knochigen Fäusten die schmerzenden Gelenke reibt. »Ich wette, es ist ein trauriges Gedicht.« Sie blinzelt auf die Schrift hinab, sieht aber nichts ohne ihre Brille.
»Sie hat so viel geschrieben. Lauter traurige Sachen. Natürlich habe ich nicht immer alles begriffen. Bisschen zu literarisch für jemanden wie mich.«
»Das verstehe ich«, sage ich. Sie sieht gut genug, um das Glitzern in meinen Augen zu bemerken, aber sie glaubt, die Tränen würden ihrer toten Enkelin gelten.
»Warum behalten Sie das Buch nicht einfach?«, fragt sie und greift mit ihrer plumpen, runzligen Hand nach
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