Saat der Lüge
stehende Schränkchen stieß, das umfiel und seinen Inhalt preisgab. Ich schickte noch einen Fluch hinterher und hob den punktierten Fuß, um den Schaden zu begutachten. Ein winziger Blutstropfen durchdrang die Socke.
Während ich den teuren Teppichboden sauber rubbelte, sah ich plötzlich etwas Glitzerndes, einen Ohrring, der zur Hälfte im dicken Wollflor neben dem Schrankbein steckte. Er sah einem Ohrring sehr ähnlich, den ich Cora einmal zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich hob ihn auf und blickte mich suchend nach einem Aufbewahrungsort dafür um. Auf der Frisierkommode stand ein kleines Schmuckkästchen aus Porzellan, und als ich den Ohrring rasch zu seinen Artgenossen legte, sah ich, dass Coras Ehering ebenfalls in dem Kästchen lag.
Mir war gar nicht aufgefallen, dass sie ihn nicht trug. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie ihn jemals ausgezogen hatte. Es erschien mir als unheilvolles Zeichen, als Vorbote drohender Probleme, die sich nicht kleinreden ließen. Weil Cora nicht mitbekommen sollte, dass ich ihn gesehen hatte, begann ich rasch, den restlichen Krimskrams aufzulesen.
Aus dem Bilderrahmen, der auf dem Schränkchen gestanden hatte, war das Foto herausgefallen, ein Hochzeitsfoto von Mike und Cora. Nicht das offizielle, sondern eins, das zu späterer Stunde entstanden war und die beiden in leicht angeheitertem Zustand zeigte. Mike umarmte sie von hinten und warf spontan einen Kuss in die Kamera. Darunter steckte ein anderes Foto im Rahmen, eines von uns allen. Das Foto von Coras Geburtstag, mit zurechtgeschnittenen Rändern. Sie in diesem abscheulichen orangeroten Kleid und Mike, der im Türrahmen lehnt und ein Bier in der Hand hält. Mir kam es seltsam vor, dass Cora das Foto nicht ausgewechselt, sondern einfach ein anderes darübergesteckt hatte. Plötzlich spürte ich einen unbeschreiblichen Stich der Reue, eine unerträgliche, eiskalte Ahnung, dass wir alle nur vorgaben, diese Leute zu sein, diese Leute, die sich gegenseitig kannten und mochten.
Ich zog ein luftiger geschnittenes T-Shirt über und machte mich auf den Weg nach unten. Die Sache mit dem Ehering war wirklich kein gutes Zeichen. Auf der obersten Treppenstufe blieb ich stehen und rieb mir noch einmal die Fußsohle. Wieder war ein Blutfleck auf meiner Fingerkuppe zu sehen. Ich hatte Angst, den schicken cremefarbenen Teppich zu besudeln. Cora klapperte in der Küche herum, und von der Wohnzimmertür war Mikes gedämpfte Stimme zu hören, wie er sich mit Stevie unterhielt.
»Pass um Himmels willen auf, dass dir ja nichts rausschlüpft«, flehte Mike. »Sag ihr bloß nichts davon. Ich muss mich an die Geschichte halten, die ich ihr erzählt habe. Wir müssen uns beide daran halten, sonst schluckt sie es nie.«
Da war es. Ich roch ein Geheimnis, und sofort begann sich meine Neugierde aufzuribbeln, die ich mit einem langen Faden der Diskretion zu einem festen Knäuel vertäut zu haben glaubte.
Ich spürte, wie sie an mir zupfte, wie sie sich in der Stelle unterhalb meines pochenden Herzens einnistete und von dort durch meinen Arm zu den Fingern meiner rechten Hand wanderte, mit der ich das Treppengeländer umklammerte – jener Hand, in der ich sonst den Stift hielt, und jene Finger, die zuerst auf der Tastatur landeten, wenn ich einen Satz tippte. Nur Stevie konnte diese Neugierde befriedigen.
Stevie
G eheimnisse und Stevie vertragen sich einfach nicht. Er ist einer dieser seltenen Menschen, die aus Prinzip ehrlich sind und Betrug nicht ertragen. Manchmal kann ich es selbst kaum glauben, aber diese Menschen existieren tatsächlich, und Stevie ist einer von ihnen.
Wenn er es mit Intrigen oder Lügen zu tun hat, liegen sie ihm wie ein Stein im Magen und drohen dann, gegen seinen Willen, wieder an die Oberfläche zu kommen. Eigentlich ist er für den Umgang mit Politikern gänzlich ungeeignet. Ich musste mich gar nicht so sehr anstrengen, bis Stevie verriet, dass Jenny in Mikes PR -Agentur in Wrexham gearbeitet hatte. Über ein Jahr lang.
Zwei Tage nach dem denkwürdigen Abendessen schaute ich bei ihm vorbei, um ihm einerseits vorzujammern, was für eine eigenartige Stimmung zwischen Mike und Cora geherrscht hatte und welche Sorgen ich mir um sie machte, und um andererseits subtil nach Informationen zu schnüffeln. Nach dem Gespräch, das ich auf dem Treppenabsatz mit angehört hatte, musste ich unbedingt herausfinden, was er wusste und was es mit der Geschichte auf sich hatte, an der er festhalten sollte, damit Cora sie
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