Saat der Lüge
schmortopfähnliche Rezepte mit Wein und Estragon, getrockneten Tomaten und Rosmarin erweitert. Sie war ein Jamie-Oliver-Fan erster Stunde und besaß alle seine Kochbücher.
Mike konnte es normalerweise kaum erwarten, dass ihre Leckereien endlich fertig waren. Wie ein kleines Kind trieb er sich in der Küche herum und bettelte, probieren zu dürfen, bis sie irgendwann Verärgerung vortäuschte und ihn aus der Küche warf. Wenn das Essen dann fertig war, stürzte er sich mit buchstäblich schmatzendem Genuss darauf und verlangte von allem einen Nachschlag. Als an diesem Abend die zweite Flasche Wein geöffnet wurde, hatte es Mike mit seinen Komplimenten für die Spaghetti fast schon übertrieben, aber ich fand, dass Cora ein wenig besänftigt wirkte und sich die Stimmung allmählich aufhellte.
Unglücklicherweise gingen Mikes Unbeholfenheit im Umgang mit Besteck und die drei großen Gläser Wein, die er intus hatte, just in diesem Moment eine fatale Verbindung ein: Als er beim Erzählen einer Anekdote in Wallung geriet und zur Emphase die Arme hochriss, flog ein Klümpchen Hackfleischsoße von seiner Gabel durch die Luft und landete wie ein Blutgerinnsel auf meinem zartblauen Wollpullover.
»Verdammt noch mal, Mike!«, rief Cora und knallte ihr Glas auf den Tisch. Die zerbrechliche Fassade des vorübergehenden Waffenstillstands zersplitterte, was zum Glück nicht für das robuste Ikea-Kristall galt, das der Gewalteinwirkung tapfer standhielt. »Was ist nur los mit dir?«
Mike stürzte mit einer Papierserviette auf mich zu und betupfte meine Brust.
»Rühr sie nicht an!«, kreischte Cora. »Rühr sie nicht mit der Serviette an!«, korrigierte sie sich. »Die Papierfarbe verfärbt sonst die Wolle. Du ruinierst ihr den Pullover, lass es! Komm mit, Lizzy, ich weiche dir den Fleck ein.«
Sie ignorierte meine Proteste und führte mich energisch in den ersten Stock, wo sie mich ins Schlafzimmer schob und mir den Pullover mit so viel kanalisierter Aggression über den Kopf zog, dass ich mir wie eine Fünfjährige vorkam, die von ihrer entnervten Mutter für den Kindergarten angezogen wird. Ich hatte nicht die Kraft, mich ihr zu widersetzen. So ging es einem oft mit Cora.
Mikes Tollpatschigkeit verfluchend wühlte sie hektisch in ihrem Schrank und wählte ein makelloses weißes Baumwollshirt für mich aus.
»Alles okay bei dir?«, wollte ich wissen und versuchte, ihr das Oberteil aus der Hand zu schnappen, bevor sie es umkrempeln und mir unsanft über den Kopf ziehen konnte. »Alles okay bei dir und Mike? Was ist da los zwischen euch?«
Für jemanden, der mit Wörtern seinen Lebensunterhalt verdient, tue ich mich manchmal wirklich schwer mit Gefühlsdingen.
»Was?« Sie hielt mitten in der Bewegung inne und schien vor meinen Augen in sich zusammenzufallen. Plötzlich wirkte sie erschöpft und ließ die Kopföffnung des T-Shirts sinken, die sie mir gerade noch aggressiv entgegengestreckt hatte. »Natürlich. Natürlich ist alles okay bei uns. Du weißt doch, wie es manchmal ist. Eheprobleme eben. Ich bin einfach immer noch so sauer auf ihn wegen der Sache vor zwei Wochen. Unglaublich, was er da wieder angerichtet hat. Ehrlich gesagt weiß ich manchmal nicht, warum ich es noch mit ihm aushalte.« Sie stützte sich an der Frisierkommode ab, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und lächelte schief. »Bin ich wahnsinnig? Ich muss wirken wie eine Wahnsinnige. Aber ich bin nun mal so schrecklich wütend.«
»Ich kann’s dir nicht verdenken«, räumte ich ein. »Das war wirklich dumm und gedankenlos von ihm. Damit darfst du ihn nicht so einfach davonkommen lassen.«
»Eben.« Einen Moment lang sah es aus, als wollte sie noch etwas hinzufügen, aber dann überlegte sie es sich anders und sagte stattdessen: »Zieh du dich um. Ich schaue lieber mal nach dem Nachtisch und weiche den hier ein.« Ohne mich zu Wort kommen zu lassen, stürzte sie wieder die Treppe hinunter.
Das T-Shirt war mir trotz meiner kleineren Oberweite an den Schultern zu eng, und deshalb wand ich mich mit vor Anstrengung und Alkohol hochrotem Kopf fluchend wieder heraus. Meine Schuhe hatte ich während des Essens abgestreift, und als ich nun im Schrank nach einem weniger einengenden Kleidungsstück kramte, bohrte sich etwas Spitzes durch die Socke in meine Fußsohle.
Fluchend stolperte ich rückwärts und blieb an der Sitzfläche eines Stuhls hängen, auf dem Coras alter College-Teddy thronte, woraufhin ich das Gleichgewicht verlor und gegen das daneben
Weitere Kostenlose Bücher