Saat der Lüge
eingemummte Passanten dem eisigen Wind entgegenstemmten. Obwohl es erst ein Uhr mittags war, war es an diesem Spätnovembertag so dunkel, dass es auch Abend hätte sein können. Auf den Straßen hingen bereits die weihnachtlichen Lichtergirlanden und bemühten sich, die winterliche Finsternis zu vertreiben.
In der Bar Europa war es urgemütlich – trotz der riesigen Fensterfront, die eine ganze Wand einnahm. Bequeme Sofas aus buttrig weichem Leder standen vor unpraktisch niedrigen Tischen, die Holzdielen und die holzgetäfelte Theke glänzten im Schein der niedrigen Wandleuchten, und die Tageszeitungen saugten die Wärme und den Atem der Gäste auf, während sich das weiß beschürzte Personal geschickt durch ein Minenfeld aus Füßen und vollen Einkaufstüten manövrierte. Bald war Weihnachten, und ich war in festlicher Stimmung.
Früher hatten Cora und ich vor Weihnachten immer etwas Besonderes zusammen unternommen, und es war so etwas wie ein Ritual gewesen, gemeinsam den Baum und die Wohnung zu schmücken. In unserem zweiten Studienjahr hatte Cora ein köstliches Weihnachtsmenü gezaubert, das wir im sanften Schein von liebevoll über dem Tisch drapierten Lichterketten, Lametta und Christbaumkugeln eingenommen hatten.
Die Lichterketten hatten wir aus dem Supermarkt, weil wir uns keine teureren leisten konnten. Das Gemüse war sogar noch billiger, denn wir hatten es auf dem Bauernmarkt gekauft, bei Standbetreibern, die endlos und lautstark vor sich hin schwatzten, wenn sie sich nicht gerade die rauen, kalten Hände bliesen oder Lebensmittel in Plastiktüten rutschen ließen. Aber an der Truthahnroulade hatte Cora wahre Wunder vollbracht, und selbst der Schampus für 1,99 Pfund sah auf dieser Weihnachtstafel gleich viel edler aus.
Einmal war ich an einem späten Dezembermorgen ins Wohnzimmer gekommen und hatte dort eine eigenartig stumme, schuldbewusst dreinblickende Cora neben dem Weihnachtsbaum vorgefunden. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich ihre Hamsterbacken und das Fehlen der sechs Schokoladenrentiere bemerkte, die wir erst Minuten zuvor auf die Äste gefädelt hatten. Brauner Saft troff aus ihren Mundwinkeln, als sie in Gelächter ausbrach.
Bei der Erinnerung an diese glücklichere, albernere Cora merkte ich, wie sehr ich mich auf Weihnachten freute. Bald konnten wir wieder gemeinsam dekorieren und Geschenke kaufen gehen. Cora jedoch war im Moment nur an einem Gesprächsthema interessiert und ruinierte damit die festliche Stimmung.
»Wir sind jetzt seit zehn Jahren zusammen. Seit zehn Jahren«, erklärte sie zum zweiten Mal in ebenso vielen Minuten und unterbrach damit meine Träumereien. Dieses Mal seufzte ich hörbar, gab mich geschlagen und bestellte bei der nächsten Kellnerin ein großes Glas Rotwein.
»Du weißt nicht, wie das ist, Lizzy«, fuhr sie fort. »Du kannst gar nicht wissen, wie das ist. Ich bin mit ihm aufgewachsen. Wir waren alles füreinander. Ich weiß, dass er lügt. Ich merke immer, wenn er lügt oder mir etwas verheimlicht. Er muss mich für bescheuert halten. Du hast keine Ahnung, was das für ein Gefühl ist und zu was es einen treibt.«
»Warum fragst du ihn dann nicht ganz direkt, Cora? Ich meine, du hast doch ein Recht darauf, es zu wissen.«
»Warum sollte ich?«, erwiderte sie und richtete ihren Blick wieder auf mich. »Warum sollte ich ihn fragen müssen? Wenn ich ihm doch vertraue? Aber ich habe ihn gefragt, und er sagt, es sei nichts passiert.«
»Wenn das so ist, glaubst du ihm entweder, oder ihr nehmt euch eine Auszeit – damit ihr euch über eure Gefühle klar werdet.« Schocktherapie. Ich wusste, dass es funktionieren würde.
»Ich soll ihn verlassen?« Sie wirkte erstaunt. »Er ist mein Mann. Ich könnte ihn nie verlassen. Ich würde alles für ihn tun.«
Aus heiterem Himmel kam mir der Gedanke, dass vielleicht genau das das Problem war. Vielleicht wusste er das nur allzu gut. Stattdessen sagte ich: »Er würde genauso alles für dich tun, Cora, also reiß dich am Riemen.«
»Hat er irgendwas zu dir gesagt?«, fragte sie misstrauisch.
»Was soll er gesagt haben?«
»Über diese Sache. Ich weiß, wie viel er von dir hält, Lizzy. Hat er sich dir anvertraut?«
»Cora, wenn ich irgendetwas wüsste, würde ich es dir sagen«, antwortete ich mit unbewegter Miene und großen Augen, ein Gesichtsausdruck, der stets den gewünschten Erfolg bringt. »Warum sollte ich dich wegen so etwas anlügen? Außerdem glaube ich gar nicht, dass es etwas zu erzählen
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