Saat der Lüge
zurückkehrten, fanden die üblichen Weihnachtsfeiern im Büro statt. Glücklicherweise verpasste ich meine, weil ich am betreffenden Abend die Spätschicht übernommen hatte. Ich arbeitete fast die gesamten »Weihnachtsferien« durch, die von Studenten inzwischen ohne jede Ironie als Semesterferien bezeichnet werden, sogar am zweiten Weihnachtsfeiertag, am Silvesterabend (bis neun Uhr abends) und am Neujahrstag (bis elf Uhr abends).
Völlig erledigt verbrachte ich die letzten Atemzüge der Silvesternacht mit meiner alten Freundin Luce aus der Journalistenfortbildung, die zufällig für eine Weile beim kurzlebigen Welsh Mirror gelandet war, und trank mir mit ihr in ihrem Haus in Canton einen Rotweinrausch an.
Dann kam der Januar. Jenny war wieder da. Und sie war tot.
Danach
A ls ich nach der Eröffnungsverhandlung zum Fall Jenny auf der harten Holzbank vor dem Gerichtssaal saß, ergriff eine nie gekannte Leere von mir Besitz, die jedes Denken und jede Bewegung unmöglich machte. Wie kann man so voll mit Worten sein und kein einziges davon auszusprechen wagen? Unruhig klapperten sie in meinem Brustkorb herum, blieben unterhalb meines Kehlkopfes gefangen. Mein Gewissen bewarf mich mit Steinen, und ich hatte Angst, dass mich jemand ansprach und die Leere in meinem Gesicht entdeckte oder das lautstarke Bombardement in meinem Inneren hörte, trotz des Regens, der nun schon den dritten Tag in Folge aufs Dach trommelte.
Ich wappnete mich gerade, um aufzustehen und zu gehen, als in einigen Metern Entfernung der gut aussehende Polizist mit den dunklen, kurz geschorenen Haaren auftauchte, der mir schon im Gerichtssaal aufgefallen war. Zuerst trug er seine Mütze noch in der Hand, setzte sie dann aber auf, zog sich die Uniform zurecht und entdeckte mich, wie ich in der Nähe der Tür im Luftzug saß, der von der menschenleeren Straße heraufwehte. Die Alkohol- und Steuersünder waren längst gegangen, es war fast Mittag.
Er schien sich unwohl zu fühlen und blickte verlegen zu Boden, was mir nur recht war, da ich auf keinen Fall seine Aufmerksamkeit erregen wollte. Aber als ich sah, wie seine Füße immer näher kamen und nach kurzem Zögern vor mir stehen blieben, musste ich wohl oder übel den Kopf von den Händen heben und seinem Blick begegnen.
»Es tut mir leid«, sagte er. Die erste, letzte und schlimmste Plattitüde von Menschen, die nichts anderes zu sagen wissen, weil ihnen die Angst vor der Trauer ihres Gegenübers jede Aufrichtigkeit und Originalität raubt. Oft genug bin ich selbst auf Familien zugegangen, die genauso dasaßen, und habe mitfühlend und verständnisvoll meine Fragen gestellt. Leidgetan hat es mir allerdings nie, deshalb habe ich es auch nie behauptet. Damit wäre ich einen entscheidenden Schritt zu weit gegangen. Aber aus seinem Mund klang die Phrase irgendwie aufrichtiger, als ich sie je zuvor gehört hatte.
Er lächelte schwach, zupfte sich die Mütze vom Kopf und fügte hinzu: »Ich habe Sie im Gerichtssaal gesehen. Wirklich eine Schande.« Er hatte liebe Augen. »Sind Sie eine Freundin der Toten?«
»Nicht direkt«, antwortete ich. »Ich bin Journalistin.«
Drei Monate nach ihrer Vermisstenmeldung war Jennys Leiche im Fluss aufgetaucht. Gefunden hatte sie, wie es bei diesen unglückseligen Personen so oft der Fall ist, ein älterer Herr, der zu lächerlich früher Stunde seinen Terrier am Flussufer spazieren geführt hatte. Zusammen mit allem möglichen Unrat wie Plastiktüten und dem unvermeidlichen Einkaufswagen hatte sich ihr Körper in einem umgestürzten Baum verfangen und hing dort wippend im angeschwollenen Winterwasser des Flusses.
Der alte Mann wollte zwar nicht namentlich genannt werden, hieß aber Thom Thomas – »Vergessen Sie das h nicht« –, war zweiundachtzig Jahre alt, lebte allein in der Welby Road in Canton und hatte eine Tochter. Er habe anfangs überhaupt nicht gewusst, ob es sich wirklich um eine Leiche handelte. Princey schon, der habe gebellt wie verrückt. Mr Thomas, für sein Alter äußerst rüstig und pragmatisch, hatte nach einem langen Stock gesucht, sich so weit nach vorn gebeugt, wie es ihm die rutschige Böschung erlaubte – seine Schuhe fanden kaum Halt –, und hatte Jenny damit ein paar neugierige Stöße versetzt.
Obwohl Mr Thomas auf seine alten Tage ein wenig arthritisch geworden war, erwies sich seine Überprüfung als energisch genug, um ihre Hand einige Male im Wasser auf und ab hüpfen zu lassen. Es sah aus, als würde sie ihm zuwinken,
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