Saat der Lüge
damit, Lizzy. Einen schönen Hofstaat aus hechelnden Verehrern hast du da draußen um dich geschart. Du hast allen die Schau gestohlen, bravo! Du kannst es einfach nicht lassen, oder?«
Er ist anscheinend fest entschlossen, mich zum Zuhören zu zwingen. Trotz der schwachen Flurbeleuchtung entgeht mir nicht, dass er noch etwas ganz anderes, etwas Wichtigeres sagen will. Ich gerate in Panik, würde ihn am liebsten wegstoßen und brüllen: »Stevie, lass mich in Ruhe, verdammt! Ich komme gut allein klar!«
Ich versuche, mich mit einem übertrieben beschwipsten Torkeln an ihm vorbeizudrücken, aber er packt meine Arme so fest, dass ich zusammenzucke, und drückt mich zurück gegen die Wand, bis sich die vielen Haarnadeln meiner eleganten Hochsteckfrisur in meinen Kopf bohren und ich erneut zusammenzucke. Mit einem kurzen, heftigen Stoß entweicht mein Atem. Sein Gesicht ist ganz nah, und plötzlich vergräbt er es in meinem Hals, als würde er versuchen, mich einzuatmen. Fast bin ich froh, dass es so gekommen ist, denn ich weiß, dass so ein Moment nie wieder kommen wird – wir beide wissen es.
Wir sind jetzt echt und ungeschminkt, so, wie wir wirklich sind. Der Tag ist gegangen und mit ihm die Nettigkeiten, der höfliche Umgang miteinander. Von jetzt an ist alles erlaubt, weil sich am nächsten Morgen niemand mehr daran erinnern wird. Mein Herz schlägt schneller, und ich bin beinahe dankbar für diesen Moment. Seiner wütenden Kraft habe ich sowieso nichts entgegenzusetzen, also ist alles, was von jetzt an passiert, nicht meine Schuld, ausnahmsweise.
»Warum wünscht man sich immer das, was man nicht haben kann?«, will er wissen, aber es ist keine Frage. Ich weiß, dass er nur innehält, um sich den nächsten Satz zurechtzulegen, aber ich rufe trotzdem seinen Namen: »Stevie, du bist betrunken.« Kein Partygast kommt vorbei, niemand kann uns hören. Warum also schreien? Ich bilde mir ein, ihn leise an meinem Ohr schluchzen zu hören, bevor er fortfährt: »Du hättest mich jederzeit haben können, weißt du das?« Er klingt jetzt traurig, aber in seiner Stimme blitzt Wut auf, und ich weiß, dass diese Wut auch in seinen Augen glüht. Sehen kann ich sie nicht, denn meine Augen sind fest geschlossen.
»Schau mich an, verdammt!«, befielt der sonst so sanfte, so zuvorkommende Stevie und packt mein Gesicht. »Schau mich endlich an! Du wolltest mich nicht, stimmt’s? Das wäre zu einfach gewesen. Warum? Warum nimmst du mich nie wahr?«
Sein Blick ist leer, verständnislos.
Ich höre, wie ich anfange, mich zu entschuldigen. Küsse und Lügen, Geheimnisse und Seufzer liegen mir auf der Zunge, Geschichten, die tief in die Nacht gehören.
Aber Stevie ist nicht nach Märchen zumute. Er will nichts von dem hören, was ich zu sagen habe. Welche Bedeutung könnte es schon haben für seinen Schmerz? Plötzlich hört er ein Lied, das er wiedererkennt, eins unserer alten Lieblingslieder.
»Willst du tanzen?«, fragt er.
Nein, das will ich nicht.
»Aber Lizzy, du tanzt doch so gerne«, zischt er, und es gelingt ihm nicht, eine spielerische Leichtigkeit in den scheinbar harmlosen Satz zu legen, die er nicht empfindet.
»Es fragen sich bestimmt schon alle, wo die Brautjungfer und der Trauzeuge geblieben sind. Wir sorgen noch für einen Skandal.« Er ist eine Karikatur seiner selbst und schmeichelt mir zuvorkommend, aber hinter seinem Lächeln ätzt sich sofort wieder die Säure durch die Maske.
Jetzt schließen sich seine Hände entschlossen um meine Taille. Mit seinen langen Beinen führt er mich durch die angrenzende Tür Richtung Tanzfläche, bevor ich noch ganz begriffen habe, was mit mir geschieht.
Ich versuche mich zu entziehen, aber ich kann nicht. Er weiß das, und er weiß auch, dass ich nicht mehr gegen ihn ankämpfen kann, sobald erst einmal mit theatralischem Überschwang die Tür aufgeflogen ist und wir uns achtzig entzückten Augenpaaren gegenübersehen, die Zeuge werden, wie der Trauzeuge mit der bezaubernden Brautjungfer auf die Tanzfläche zusteuert. Ich täusche Bescheidenheit vor, denn ich will nicht dort hoch ins grelle Discolicht zu Mike und Cora, will nicht mit dem neuen, eiskalten, unberechenbaren Stevie tanzen, der den Abend in eine scheußliche Seifenoper verwandelt – in ein häusliches Drama der ganz anderen Art.
Aber er lässt mir keine Wahl, mit den Händen hält er weiter meine Taille fest umfasst. Mein Kleid raschelt um uns herum, und mein Diadem reflektiert die rotierenden Lichter. Er
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