Saat der Lüge
muss schwer für dich sein, aber ich wollte es nicht vor dir geheim halten. Wir haben noch keinen Ring oder so was, ich meine, er hat noch nicht richtig um meine Hand angehalten. Er kann sich in nächster Zeit sowieso keinen Ring leisten, aber irgendwann wird er um meine Hand anhalten – wenn der richtige Moment gekommen ist. Es soll etwas ganz Besonderes werden, weißt du. Eine Überraschung für mich.«
»Ich freue mich so für dich«, sagte ich, nachdem ich meine Zunge zum Funktionieren gezwungen hatte. Dann brach ich völlig überraschend und unerklärlicherweise in Tränen aus. Ich konnte nichts dagegen tun. Die äußere Schale löste sich ab, und aus meinen Augen strömten die Fluten einer ertrinkenden Welt. Es war albern und unnötig und beschämend. Zwischen einzelnen Schluchzern und Notfalltaschentüchern, die Cora sofort herbeizauberte, wiederholte ich: »Nein, ich freue mich wirklich für dich, herzlichen Glückwunsch! Ich meine, das ist toll. Ich weiß, dass du dir genau das gewünscht hast.«
Jetzt begann auch Cora zu weinen, und nachdem sie ziemlich unbeholfen den Arm um mich gelegt hatte, sagte sie: »Du wirst das auch eines Tages erleben, Lizzy. Irgendwann triffst du jemanden, der dich wirklich verdient. Deinen eigenen Mike.«
Ausgerechnet in diesem Moment begann die etwas heisere Dreifaltigkeitskappelle aus Sting, Bryan Adams und – Gott stehe mir bei – Rod Stewart im Radio ihre Schnulze One For All and All for Love aus dem Disney-Remake von Die drei Musketiere zu schmettern.
»Oh, das ist unser Lied!«, schniefte Cora, und ein verträumtes Lächeln spielte plötzlich um ihre Lippen.
Seitdem erinnere ich mich an alle unsere gemeinsamen Momente auf diese Weise: als Musik-, Ton- oder Lichtschnipsel, wie eine Fernsehsendung, die im Hintergrund eines fremden Lebens vor sich hin flimmert, Momentaufnahmen von Gefühlen, deren Bedeutung ich erst durch die Worte anderer Menschen verstehe, aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur, von denen manche aus der Zeit gefallen sind.
Und zwei Jahre später zieht Mike dann also im Zugwaggon, der in den Bahnhof von Swansea rumpelt, den Verlobungsring aus der Tasche. Der richtige Moment scheint gekommen zu sein. Jetzt schon?, denke ich. So kurz nach …?
Er klappt die Schatulle auf und lüftet den kühlen Glanz des zartblauen Steins. Hand in Hand sitzen wir da und starren ihn an. Zwei Gestalten, die so eng die Köpfe zusammenstecken, dass sie sich fast berühren, vor einem Hintergrund aus schmierigen Zugfenstern und Kindergeschrei. Animal Nitrate von Suede schallt blechern aus einem Walkman und zerkratzt die Luft.
Mike küsst mich ganz leicht und sanft auf die Lippen und lehnt dann für vielleicht fünf Sekunden die Stirn an meine, bevor er den Kopf hebt, um mir in die Augen zu sehen. Es sind Tränen in diesen Augen, aber er kann sie nicht sehen. Ein romantisches Gemälde, auf dem der Held die falsche Heldin küsst.
»Er gefällt ihr bestimmt«, sage ich.
»Muss er ja, sie hat ihn praktisch selbst ausgesucht.«
»Ich freue mich für euch beide.«
»Aber bereust du, dass es passiert ist? Das mit uns?«, will er wissen.
»Nein«, antworte ich.
»Ich auch nicht.«
Dann wird diese ach so bewegende Szene von Stevie gestört, der mit der Faust an die Glasscheibe hämmert und mit den Lippen lautlos die Worte formt: »Steigt ihr zwei jetzt endlich aus dem verdammten Zug, oder was? Die Pubs warten!«
Fast genug
D ie Hochzeit von Cora und Mike wurde ein rauschendes Fest, dank vier Jahren akribischer Recherche und Planung. Mich hatten sie in ein fliederfarbenes Kleid mit einem hübschen Anstecksträußchen aus Kornblumen und weißen Rosen gesteckt, aus dem ich unermüdlich herauslächelte. Keine Rüschen, keine Volants, kein Tüll. Geschmackvoll und elegant, gottlob.
Es gab zu viele Fotografen und zu viel zu essen. Das Übliche. Das Hotel war vornehm, aber nicht übermäßig spießig. Es war aus hellem Sandstein im georgianischen Stil erbaut und lag hinreißend exklusiv auf einer kleinen Insel inmitten eines sich kräuselnden Sees, deren Verbindung zum Festland aus einer verschnörkelten Brücke über einem Teppich aus exotischen Seerosen bestand.
Nach einem Regenguss am frühen Morgen versprach das Wetter herrlich zu werden. Seit dem Morgengrauen saß ich frisch geduscht im Zimmer von Coras Mutter und sah mit einer Tasse Kaffee in der Hand aus müden Augen zu, wie der Friseur Coras speziell für den Anlass herangezüchtete Lockenmähne zu komplizierten Knoten,
Weitere Kostenlose Bücher