Saat der Lüge
sorgen, dass der Name von jedem, den Sie auf dieser gottverlassenen Welt kennen, dick und fett in der Zeitung erscheint. Sie können von Glück sagen, wenn ich Sie in Ruhe lasse. Also seien Sie ein braver Junge und verpissen Sie sich.«
Jahrestag
E in beinahe frostiger Wind begann die Queen Street hinaufzuwehen, und das Kribbeln auf meiner Haut verriet mir deutlicher als mein Frösteln unter dem Regenmantel und die ersten gelben Blätter unter meinen Füßen, dass der Herbst gekommen war.
Nachdem der Currymann sein Schweigegeld bekommen hatte, war der August zunächst in einen hitzeflimmernden September übergegangen, der mit beinahe mediterraner Pracht vorüberzog. Am Strand tummelten sich die letzten gierigen Sonnenanbeter, und das schwächer werdende Abendlicht tauchte Kinder, Hunde, Rentner und Eltern gleichermaßen in rosa Licht.
Wir brachten die üblichen Artikel über Schulanfang und Semesterbeginn, denen wie jedes Jahr die Veröffentlichung der Schulabschlussergebnisse vorausgegangen war. Sinkt das Bildungsniveau? Sind Schulnoten ohnehin nutzlos? Mit solchen Fragen füllt man die Sommerpause, während Parlament und Nationalversammlung pausieren und die interessanten Prominenten auf Sardinien weilen. Jedes Jahr wird mit diesen saisonalen Seitenfüllern die zweite Jahrshälfte eingeläutet, und so drehen und drehen wir uns immer weiter im Kreis …
Ich verspürte die übliche Erwartung, die in dieser Jahreszeit die Luft elektrisch aufzuladen scheint, und sog gierig den kalten, klaren Wind in die Lunge, der den Schweiß und den Staub des Sommers von der Haut löste. Das kitschig bunte Federkleid des Augusts wurde abgestreift, Äste und Laub wurden stetig brauner, und der Geruch nach brennendem Holz und Nordwind ersetzte die widerlich süße, blumige Duftnote des zu Ende gehenden Sommers. Mit dem Herbst kam die verlockende Aussicht, blank gescheuert, bis auf die Knochen reingewaschen und wieder in einen unbefleckten Zustand zurückversetzt zu werden.
Ich kam mit einer höchst willkommenen Gehaltserhöhung von fünfzig Pfund im Monat nach Hause, kramte vergnügt meine Schals und Handschuhe, gemütlichen Cordhosen, pastellfarbenen Rollkragenpullover und flauschig-warmen Winterstiefel hervor und dachte an herzhafte, satt machende Eintöpfe und Suppen hinter zugezogenen Vorhängen. Es würde Partys und Lagerfeuer geben, heiße Schokolade mit Brandy, Schlittschuhpartien und Gelächter und eine Million anderer Gründe, mit rosigem Gesicht und einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen durch die kalten Straßen zu stapfen.
Ich hatte den Eindruck, seit einem Jahr nicht mehr richtig durchgeatmet zu haben. Jenny und all die Zweifel, der Currymann und seine Drohung – das alles gehörte in eine andere Welt. Es war Zeit für einen Neuanfang. In dieser Nacht schlief ich wie ein junges Mädchen und trieb auf einem Ozean aus wohligen, vorpubertären Träumen von funkelnden Lichtern und neuen Schuhen dahin.
Bedauerlicherweise hatte ich eine Kleinigkeit vergessen: Cora. Ein Name, der sich irgendwie vollkommen anfühlte im Mund, gesund, befriedigend, sicher, zentral.
Seltsam, wie wir – Mike, Stevie und ich – immer schon um ihre Vorlieben und Launen gekreist waren; um ihren Esstisch, ihre Auswahl von Bars und Clubs, ihre Hochs und Tiefs, ihre Empfindlichkeiten; rücksichtsvoll, wenn wir widersprachen oder diskutierten, besänftigend, wenn es zur Konfrontation kam, erpicht darauf, sie bei Laune zu halten. Vielleicht taten wir das nur, weil es der Weg des geringsten Widerstands war, vielleicht aber auch, weil wir uns in der Rolle unartiger Kinder gefielen, die hinter dem Rücken ihrer Eltern kichernd Grimassen schnitten. Wir spielten unser Lieblingsspiel: Wie mache ich Cora glücklich?
Mag sein, dass uns dieses Verhalten eine perverse Macht über sie verlieh, aber ich glaube, wir wollten sie auch aufrichtig beschützen. Wir wollten, dass sie glücklich war, weil dadurch auch unser Leben leichter wurde.
Nach Coras heftiger Reaktion im Anschluss an die Nacht im Charlie’s hatten wir daher versucht, sie vor genaueren Informationen zum Fall Jenny abzuschirmen. Weder ich noch Mike hatten durchblicken lassen, dass sie bei seiner Firma angestellt war und dass er sie schon aus Wrexham gekannt hatte. Ihr Tod schien nichts als ein bedauernswerter Unfall zu sein, wozu es also noch schlimmer machen? Die Polizei veröffentlichte keine weiteren Aufrufe und schien Jenny nicht mit Personen in Verbindung zu bringen, die damals im
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