Saat der Lüge
zur Polizei zu gehen. Diese Nacht ist Monate her, und wir wissen schließlich nicht, wohin sie gegangen ist, nachdem wir weg waren, oder was mit ihr passiert ist. Es hätte nur unnötige Scherereien gegeben, und das für nichts und wieder nichts, weil wir sowieso nicht hätten helfen können.«
»Du meinst, Scherereien für mich und Mike? Scherereien zwischen uns? Mike weiß es also auch, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete ich vorsichtig, wohl wissend, dass sie mich jederzeit bei einer Lüge ertappen konnte. »Allerdings noch nicht lange.« Mir war klar, dass sie Mike anrufen würde, sobald sie den Hörer aufgelegt hatte. Wir hatten eine gemeinsame Version zur Schadensbegrenzung vereinbart, die besagte, dass er erst kurz vor dem jeweiligen Artikel, der Cora auf die richtige Fährte gebracht hatte, von Jennys Tod erfahren hatte. Diese Darstellung schien die wenigsten Tücken zu bergen.
»Verstehe. Natürlich. Ja.« In ihre Stimme kehrte ein Hauch von Beherrschung zurück, und ich spürte, wie sie sich zurückzog. Ihre plötzliche Ruhe verriet, dass sie verärgert war und ein wenig verletzt. Sie war nicht gern die Letzte, die von etwas erfuhr. Ich schätze, es war ihr gutes Recht, eingeschnappt zu sein. Das war immer noch besser als wütend oder hysterisch.
Rasch beendete sie das Gespräch, nachdem sie mir noch einmal versichert hatte, es gehe ihr gut, es sei nur ein Schock gewesen und ich solle ihr Bescheid geben, wenn ich etwas Neues hörte, natürlich verstehe sie, warum ich ihr vorher nichts gesagt habe, sie wisse ja, dass ich sie nur schonen wollte, ich solle mir keine Sorgen machen, sie werde sich nicht aufregen.
Als ich das Handy vom Ohr nahm und im Sessel des Chefredakteurs in mich zusammensank, ging mir auf, dass wir einen Fehler gemacht hatten.
Anfangs hatte die Tatsache, dass ich – dass wir – ihr Jennys Tod verschwiegen hatten, die Situation für mich und Mike leichter gemacht, aber jetzt schürte offensichtlich genau diese Tatsache in Cora den Verdacht, dass es etwas zu vertuschen gab. Ich hörte es an ihrem Tonfall am Ende des Gesprächs. Und wenn es etwas zu vertuschen gab, dann musste es mit Mike zu tun haben. Es dauerte nicht lange, bis Coras nagende Zweifel sich nämlich auf etwas richteten, das mehr mit ihr selbst zu tun hatte als die boulevardtaugliche »Tragödie« eines toten Mädchens, das keiner von uns wirklich gemocht hatte.
Ein oder zwei Wochen später stimmte Cora wieder ihre alte Leier an und behauptete, hinter dem angeblichen Zufallstreffen mit Jenny im Charlie’s stecke mehr, als sie zunächst gedacht habe. Inzwischen wusste sie, dass Jenny aus Wrexham stammte, und die dortige PR -Branche war überschaubar.
Mike und ich bestritten übereinstimmend, dass es sonst noch etwas zu erzählen gab. Sie war also tot, na und? Das änderte nichts an dem, was laut Mike in jener Nacht passiert war. Aber Coras Instinkt verriet ihr, dass der Mann, den sie liebte und mit dem sie seit Jahren zusammenlebte, Geheimnisse vor ihr hatte. Auch wenn sie nicht wusste, was er ihr vorenthielt, begann langsam das Misstrauen in ihr zu keimen und in ihrem Herzen Wurzeln zu schlagen, eine Pflanze, deren Blüten schwarz und welk zu werden versprachen.
Die Polizei hatte keine neuen Erkenntnisse zu bieten, und während der Sommer ins Land zog, ließ so die öffentliche Aufmerksamkeit immer mehr nach. Bis der Richter sein Urteil über die Todesursache fällte, waren keine neuen Enthüllungen zu erwarten. Die vorbeiziehenden Wochen nahmen Coras Zweifeln und Fragen ein wenig die Schärfe. Der Alltag forderte sein Recht und ließ alles wieder normal erscheinen, und auch Cora schien sich widerwillig in eine Art Wartezustand zu fügen.
Es fiel uns leicht, das zu glauben, weil wir es glauben wollten. Wir wollten die Zeit zurückdrehen, wollten wieder so leben, wie wir es vor Jenny getan hatten. Mike gab sich die größte Mühe, Cora zufriedenzustellen, sie zu verwöhnen und von seiner unvergänglichen und ungeteilten Zuneigung zu überzeugen. Die Sache war eine kurze Entgleisung gewesen, eine kleine Unebenheit, ein Störfaktor, der bald auf der Strecke blieb, während man nach vorn schaute und das glückliche Eheleben wieder aufgenommen wurde.
Während der heißen Sommermonate hatte Cora unterrichtsfrei, und da ich wechselnde Schichten arbeitete, konnten wir die langen, in endlose Abende übergehenden Tage immer wieder dazu nutzen, zu faulenzen oder uns fast wie in alten Zeiten die Nächte um die Ohren zu schlagen.
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