Saat der Lüge
Charlie’s gewesen waren. Wie Jenny ihre letzte Nacht verbracht hatte, blieb ein Rätsel.
Mein erster Artikel über die Identifizierung von Jennys Leiche war Cora tatsächlich entgangen. Mike hatte recht gehabt: Sie las nicht viel und verfolgte nur selten die Nachrichten. Für Cora spielte sich das Leben nicht draußen auf der Straße ab, wo Tod und Skandale und der Niedergang des öffentlichen Dienstes die Schlagzeilen bestimmten, sondern bei jenen Personen, die täglich in engen, genau vorgeschriebenen Ellipsen um sie herumkreisten. Das machte es leichter für uns, Jenny außen vor zu lassen, jenseits der Grenzen, dort, wo sie hingehörte. Ich glaube, insgeheim wussten wir genau, dass wir die Sache nicht für immer geheim halten konnten. Wir warteten also lediglich den richtigen Moment ab und machten es uns einstweilen so leicht wie möglich.
Im Mai stieß Cora auf den Artikel über die Beerdigung. Seite drei, Jennys Foto auf dem Sarg, groß und in Farbe. Durch Zufall. Sie hatte sich eine Zeitung gekauft, weil an diesem Tag ein Bericht über die Mutter einer Schülerin erscheinen sollte, die eine private Hausaufgabenbetreuung auf die Beine gestellt hatte.
Sie las das Datum, an dem Jenny zum letzten Mal lebend gesehen worden war, und erkannte sofort, dass es sich um Stevies Geburtstag handelte, um die Nacht im Charlie’s. Mein Name stand über dem Artikel, und es stand auch darin, dass Jenny für eine PR -Agentur gearbeitet hatte. Zum Glück gab es keine Verbindung zwischen ihrer Agentur und der von Mike, da sie aus firmenstrategischen Gründen unter verschiedenen Namen firmierten.
»Das ist sie! Das ist diese Jenny, oder?« Aufgrund ihrer Aufregung und wegen des schlechten Empfangs krächzte Coras Stimme nur undeutlich aus meinem Handy, aber ich verstand trotzdem jedes Wort. Die Angst vor diesem unvermeidlichen Gespräch hatte an einem fest verschlossenen Ort in meiner Brust geschlummert, so dass mir unbewusst längst klar war, welche Sätze fallen und was ich antworten würde – in ruhigem Ton und mit neutralem Gesichtausdruck – und wie ich mich dennoch unter Coras scharfer Anklage winden würde. Wenigstens hatte sie mich auf dem Handy angerufen, so dass ich mich in ein stilles Eckchen zurückziehen konnte, wo uns niemand hörte und ich mein Gesicht nicht verbergen musste.
»Cora? Ich kann dich kaum verstehen. Ich geh in ein anderes Zimmer. Wie bitte?«, brüllte ich und nutzte dieses ziemlich offensichtliche kleine Täuschungsmanöver dazu, mein Handy mit nach nebenan ins leere Konferenzzimmer zu nehmen.
»Diese Jenny! Das ist diese Jenny!«, kreischte sie. »Du wusstest davon? Was ist passiert? Ist ihr irgendetwas zugestoßen? Wie kommt es, dass du darüber schreibst? Warum hast du nie etwas gesagt? Hörst du mich? Lizzy? Lizzy?«
Ich ließ mich schwer in den Ohrensessel des Chefredakteurs fallen und kratzte meine Kraftreserven zusammen. Auf ins Gefecht.
»Ja, jetzt ist es besser, ich höre dich. Du hast also den Artikel gelesen?«
»Was ist mit ihr passiert? Wie kommt es, dass du nichts davon gesagt hast?«
Die vorbereitete Antwort Nummer eins kam mühelos: »Na ja, ich hab den Auftrag ganz kurzfristig übernommen. Außerdem wollte ich dich ehrlich gesagt nicht schon wieder beunruhigen.«
»Aber seit wann weißt du, dass sie tot ist?«
Das war die kniffligste Frage, über die ich am meisten nachgedacht hatte. Deshalb wusste ich jetzt genau, was ich sagen wollte: »Also um ehrlich zu sein, weiß ich es schon seit ein paar Monaten. Als ihre Leiche gefunden wurde, kamen die ersten Meldungen raus. Aber ich habe nichts gesagt, weil ich ja wusste, wie sehr dich die ganze Geschichte sowieso schon mitgenommen hatte. Ich fand es sinnlos, schlechte Gefühle wieder aufzuwärmen, und es war sowieso viel zu spät, um noch irgendetwas tun zu können. Ich habe einfach gehofft, dass du es nicht mitbekommst. Ich weiß, dir ist das nicht klar, aber für mich sind solche Sachen Alltag. So was kommt jeden Tag vor.«
»Aber in dem Artikel hört es sich so an, als würden die Familie und die Polizei davon ausgehen, dass etwas Schlimmes passiert ist und es vielleicht gar kein Unfall war. Da steht nicht, dass sie in den Fluss gefallen ist oder so was. Die glauben doch nicht etwa, dass ihr Tod irgendwie verdächtig ist, oder? Du weißt schon … dass es sich vielleicht um ein Verbrechen handelt?«
Das war schnell gegangen. Diesen Gedankensprung hatte sie deutlich rascher vollzogen als ich, deutlich rascher auch, als
Weitere Kostenlose Bücher