Saat der Lüge
besonders amüsiert. Ich nahm mir vor, mich von jetzt an zurückzuhalten und ihr mehr Aufmerksamkeit zu schenken – um ihre Launen abzuwenden, bevor sie zu ausgeprägt wurden, denn das war schließlich Sinn und Zweck dieses Abends. Die große Cora-Aufmunterungs-Mission. Ich durfte mich nicht ablenken lassen.
Also erkundigte ich mich nach der Schule und dem bevorstehenden Geburtstag ihrer Mutter, fragte sie, ob sie mal wieder Lust auf ein Konzert hätte, und lästerte über die Vertriebsgirls, bis ich ihr endlich ein Lächeln entlockte.
Als James mit den Drinks zurückkam, war er ein Mann mit verlorener Mission – nämlich der, mich in die Kiste zu kriegen.
Ich muss zugeben, dass ich mich nach dem Jack Daniel’s ein wenig auf Abwege führen ließ und das zarte Rosa seiner Lippen bewunderte. Mir gefiel der leichte Bartschatten unter seinem Kinn, die sanfte Wölbung seines Unterarms, neben dem mein eigener umso schmaler wirkte. Ich begann mich zu fragen, wie es sich wohl anfühlte, wenn sich seine Finger fest darum schlossen.
Das änderte nichts an der Tatsache, dass ich nicht mal mit James geschlafen hätte, wenn er mich auf Knien darum angefleht hätte. Aber ich gestattete mir, ihn anzuhimmeln, während er die Taktik wechselte und höflich und gekonnt eine angeregte Konversation zu führen begann, der ich nur mit halbem Ohr lauschte, weil ich die weichen Haare in seinem Nacken betrachtete und sein zweifellos sündhaft teures Aftershave zu identifizieren versuchte. James war ein ungenierter Markenfetischist.
»Wirklich, Liz? Das hast du uns nie erzählt«, sagte James plötzlich.
Ich merkte, dass mich alle anstarrten, und versuchte, gegen die angenehm warme Trübung anzukämpfen, die der Whiskey hinter meinen Augen verursachte. Endlich gelang es mir, den nur halb vernommenen Wortwechsel in Gedanken ein Stück zurückzuverfolgen.
»In London habt ihr bestimmt mit ziemlich zwielichtigen Gestalten zu tun«, hatte Cora gesagt. (Vielleicht ist es Givenchy Gentleman?)
»Mörder, Pädophile und Schwindler allesamt. Und das sind nur die Journalisten.« (Oder Hugo Boss?)
»Aber für zwielichtige Geschichten muss man ja nicht erst nach London gehen. Kann sein, dass Liz bald ihren eigenen Mord hat, über den sie schreiben kann. Und das direkt hier vor Ort, frisch aus dem Fluss gefischt.« Cora hielt kurz inne, bevor sie fortfuhr: »Wenn ich mir überlege, dass wir in der Nacht, in der das Mädchen starb, mit ihr im selben Club waren! Stimmt’s, Liz? Sie stand so nah neben uns, wie wir jetzt neben euch stehen.«
Die dumme Kuh. Sie konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen.
In dem leichten Lächeln, das um ihre Lippen spielte, lag eine unausgesprochene Kampfansage. Sie wartete nur darauf, dass ich blass wurde und herumstammelte. Den Gefallen würde ich ihr nicht tun.
»Echt? Wann denn?«, fragte ich mit perfekt vorgetäuschter Langeweile.
»Scheiße, Liz, warst du so betrunken?«, lachte James.
»Natürlich waren wir dort«, ignorierte ihn Cora, deren Stimme jetzt eine Nuance kräftiger klang. »Wir haben sogar mit ihr gesprochen.«
»Wow, echt? Wie unheimlich!«, rief eins der Vertriebsmädels bewundernd.
»Ja, total gruselig«, gab ihr ihre Freundin recht. »Ich meine, vielleicht wart ihr die Letzten, die sie lebend gesehen haben. Dann seid ihr also so was wie Zeugen, weil derjenige, mit dem sie nach Hause gegangen ist, wahrscheinlich der war, der es getan hat – sie umgebracht hat, meine ich. Die letzte Person, die einen Verstorbenen lebend sieht, ist im Normalfall auch der Mörder. Nein, die erste Person, die einen Lebenden tot sieht, ist …« Nachdem sie sich selbst ausreichend aus dem Konzept gebracht hatte, brach sie ab.
»Derjenige, der die Leiche entdeckt und sie der Polizei meldet, ist oft auch der Letzte, der die Person lebend gesehen hat. War es nicht so?«, half ihr James aus der Patsche. Er überlegte. »Stammt das nicht sogar aus Inspector Morse ?«
Inzwischen zeigte der Alkohol bei uns allen Wirkung, mit Ausnahme von Vertriebsdame Nummer eins – die war auch im nüchternen Zustand einfach nur dumm.
»Wir wissen doch gar nicht, ob sie umgebracht wurde«, warf ich ungeduldig ein. »Sie kann genauso gut einfach besoffen in den Fluss gefallen sein.«
»Nicht doch, Liz, die Story ist nicht halb so gut. Das kannst du besser«, rügte mich James und setzte wieder sein breites Grinsen auf. »Bestimmt war es irgendein Typ, der sie gevögelt hat. Eifersuchtsdrama. Garantiert. Grande
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