Saat der Lüge
in der dir die Mutter ihr Herz ausgeschüttet hat. Die Ärmste. Du hast dich echt reingehängt.«
Ein elektrisch aufgeladener Pfeil, dunkelgrün und scharf wie ein Laser, schien von Coras gebeugten Schultern aus durch die Gesprächspause zu schießen und sich wieder zurück in ihren Rücken zu bohren, der sich schlagartig aufrichtete. Sie beugte sich leicht vor, und ihre Augen wurden schmal. Meine Nerven waren sofort in Alarmbereitschaft.
»Du hast wirklich ein Händchen für so was«, fuhr James fort. »Süß, die ganzen Details über ihren Kindheitstraum, Balletttänzerin zu werden, und das Klassenfoto. Ein junges Mädchen voller Hoffnungen, viel zu früh aus dem Leben gerissen. Bewegend, aber nicht kitschig, voller Menschlichkeit.«
Ich ließ mir nichts anmerken und vermied es, Cora anzusehen. Aber ich konnte sie spüren. Das Kribbeln elektrostatischer Energie, Nervosität, die zwischen uns die Luft erfüllte, Vorboten eines heraufziehenden Unwetters.
»Menschlichkeit? Was wisst ihr in der großen grauen Stadt denn schon von Menschlichkeit, Darling?«, antwortete ich, klappte das Revers seines makellosen Jacketts zurück und fuhr mit den Fingerspitzen über sein Hemd. »Bei euch geht es doch nur um Sexskandale und Korruption. Wo hast du heute eigentlich dein Aufnahmegerät gelassen? Und was war das für eine Story, die du letzte Woche über diesen schwulen Abgeordneten und seine kleinen Stricher geschrieben hast? Da gab es doch nun wirklich ein paar nette menschliche Details. Wie bist du bloß an die ganzen Insiderinformationen gekommen? Wie weit bist du für den Scoop gegangen, für den heißen Draht ins Milieu? Bestimmt bist du ganz in deiner Rolle aufgegangen.«
Er grinste. »Du weißt, dass das nicht meine Art ist, Liz. Meine Lippen sind versiegelt.«
»Jetzt vielleicht, aber was haben deine Lippen letzte Woche getrieben? Das ist es, was mir Sorgen macht.«
»Oh, was habe ich bloß getan, um diese Verunglimpfung zu verdienen? Wie kann ich dich je davon überzeugen, dass meine Heißblütigkeit von grundlegendem Anstand gezügelt wird, wenn du jedes Mal, wenn ich hier bin, um schöne Stunden mit meinen Kollegen aus der Provinz zu verbringen, zu beschäftigt bist, um mir auch nur fünf Minuten deiner kostbaren Zeit zu widmen?«
»Jetzt bin ich ja da. Du könntest mit einem Jack Daniel’s auf Eis anfangen, Liebling«, säuselte ich und wies mit dem Kopf zur überfüllten Theke. Sein Grinsen wurde noch breiter. »Und ich bin mir sicher, dass dein Londoner Spesenkonto auch einen für meine Freundin zulässt.« Ich war mir außerdem sicher, dass er bei seiner Rückkehr das Thema Jenny vergessen haben würde, das wie eine unsichtbare Leiche zwischen mir und Cora in der Luft hing, eine leise läutende Totenglocke.
»Knallhart. Du wirst es noch weit bringen«, entgegnete er, ohne Cora auch nur anzusehen. »Du solltest nach London kommen, damit ich deinem Verhandlungsgeschick den letzten Feinschliff verpassen kann.« Die Vertriebsgirls lächelten matt im Hintergrund. Ich warf Cora einen Seitenblick zu und sah ihre glasigen Augen und den zusammengekniffenen Mund. »Zwei Jack Daniel’s also, kommt sofort!«
»Wodka, bitte«, korrigierte Cora, aber er war schon unterwegs, und ihre Stimme lag außerhalb seiner Wahrnehmungsfrequenz. Also gab sie sich wieder dem Schweigen hin. Ich war erleichtert, dass sie sonst nichts gesagt hatte, aber sie tat mir auch ein wenig leid. Es war wirklich nicht besonders aufmerksam von mir, an ihrem Abend mit dem schönen James zu flachsen.
»Wir wimmeln ihn bald wieder ab, keine Sorge«, flüsterte ich.
»Warum redest du so bescheuert mit ihm? Ihr hört euch an wie die letzten Idioten. Er ist jedenfalls ein Idiot!«
Da hatte sie nicht ganz unrecht. Ich war in den flapsigen, affektierten Medienjargon verfallen, der uns untereinander zur zweiten Natur geworden war. Natürlich sprach ich mit niemandem außerhalb der schreibenden Zunft so. Bei unserem Tänzeln und Parieren ging es hauptsächlich darum, den eigenen Beruf ein wenig auf die Schippe zu nehmen. Nicht, dass die Vertriebsmädels in der Lage gewesen wären, so etwas wie Sarkasmus oder Selbstironie herauszuhören – sie diskutierten den lieben langen Tag darüber, ob in dieser Woche nun runde oder spitze Schuhe angesagt waren. Bestimmt dachten sie, wir würden bloß flirten.
Cora hingegen kannte den Unterschied. Sie hatte schon des Öfteren erlebt, wie ich meinen Sarkasmus an- und ausknipste, aber diesmal wirkte sie nicht
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