SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Parteibeschlüssen Stellung nehmen«, sagte er im Januar 2013. Das klingt nicht so weltbewegend – für die Piraten war es das aber.
Immerhin sind die Piraten mit einer neuen Form von Basisdemokratie angetreten: Onlinepolitik, digitale Partizipation, immer und überall und andauernd, Meinungsbildung als permanenter Prozess, Liquid Feedback, mit eigener Software. Ein Treffen mit Piratenpolitikern ist für jemanden jenseits des digital divide, der die autochthonen Netzbürger von den angelernten unterscheidet, eine sonderbare Sache: Alle haben buchstäblich die ganze Zeit irgendein Gerät in der Hand und twittern und posten und kommunizieren unablässig. Man muss sich an diese Virtualisierung der Gegenwart erst noch gewöhnen. Jedenfalls passt das nicht gut zum herkömmlichen Modell, in dem ein paar mehr oder weniger kundige Leute sich zusammensetzen, gegeneinander intrigieren, und daraus entsteht dann in einem geheimnisvollen Amalgamierungsprozess die Politik. In diese Richtung wollte Schlömer seine Partei bewegen: »Wir müssen mehr auf Köpfe setzen«, sagte er. Und bekam dafür selber ordentlich auf den Kopf.
Die Piraten haben dieselben Probleme, die die Grünen in ihren ersten Jahren hatten. Und wenn Schlömer ein Realo ist, dann ist zum Beispiel seine Schatzmeisterin Swanhild Goetze eher eine Funda, falls diese Wortbildung zulässig ist. Jedenfalls hat sie nach der wirklich schlimmen Niederlage der Partei bei den Wahlen in Niedersachsen fröhlich getwittert: »Endlich habe ich meine kleine, süße 2-Prozent-Partei wieder.« Man sieht, es geht um die Frage, ob die Piraten ein fröhlicher Verein von Amateuren sein wollen oder eine politische Partei im System der Bundesrepublik Deutschland. Wenn die Partei selbst die Frage nicht beantworten will, dann werden die Wähler das für sie erledigen.
Das Ergebnis ist offen. Aber eines ist sicher: Es wäre viel zu früh, die Piraten abzuschreiben. Und außerdem wäre es schade um eine Partei, deren prominentes Mitglied, Marina Weisband, das Ziel von Politik so beschreibt: »Politik hat das Ziel, alle Menschen möglichst glücklich zu machen.«
10 ZWEITES ZWISCHENSPIEL
EIN GESPRÄCH MIT WOLFGANG KRAUSHAAR
WOLFGANG KRAUSHAAR IST POLITIKWISSENSCHAFTLER AM HAMBURGER INSTITUT FÜR SOZIALFORSCHUNG.
JAKOB AUGSTEIN: Herr Kraushaar, was würden Sie tun, wenn Sie zur Überzeugung gelangten, dass sich das System selbst nicht mehr an seine Gesetze hält? Oder es hält sich an die Gesetze – verletzt aber deren Geist.
WOLFGANG KRAUSHAAR: Verzeihung, aber was Sie damit aufwerfen, scheint mir nichts anderes als die altbekannte Systemfrage zu sein. Sie wissen vermutlich, dass sie einst im Zentrum der 68er-Bewegung gestanden hat. Diese Frage ist nach ihrer Hochzeit in den siebziger Jahren dann immer weiter verblasst – obwohl mit der Durchsetzung der neoliberalen Ökonomie seit Mitte der achtziger Jahre die objektiven Gründe, sie zu stellen, eher zugenommen haben dürften. Der Neoliberalismus ist inzwischen ja geradezu zu einer normativen Voraussetzung des Politischen geworden. Man muss die Unterschiede zwischen den im Bundestag vertretenen Parteien schon etwas genauer betrachten, um in dieser Hinsicht fündig zu werden. Die sogenannte Systemfrage wird in unserem parlamentarischen System ja – wenn man einmal von Teilen der Linkspartei absieht, die in dieser Hinsicht ohnehin nicht als kreditwürdig gilt – gar nicht mehr gestellt.
A: Darf man diese Frage mit Gewalt beantworten?
K: Nein, das darf man nicht. Wenn Sie mich vor 40 Jahren gefragt hätten, wäre meine Antwort vermutlich eine andere gewesen. Die sogenannte Gewaltfrage ist allerdings noch immer ein schwieriges Thema. Unsere bürgerliche Demokratie wäre ja ohne den Einsatz von Gewalt nie entstanden. Die Französische Revolution und der Sieg der Alliierten anderthalb Jahrhunderte später waren nun mal mit einer entschiedenen Form der Gewaltanwendung verbunden. Ich glaube im Übrigen nicht, dass sich bei uns nach dem Zweiten Weltkrieg aus eigenen Kräften eine parlamentarische Demokratie entwickelt hätte. Mit anderen Worten, wir verdanken unser demokratisches System dem Einsatz von Gewalt. Das ist ganz unbestreitbar.
Der Parlamentarismus ist – auch wenn sich das vielleicht etwas pathetisch anhören mag – eine zivilisatorische Errungenschaft. Dazu gehören in elementarer Weise nicht nur die Gewaltenteilung und der Rechtsstaat, sondern auch eine von allen Bürgern allgemein akzeptierte Form der Gewaltfreiheit,
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