Sacramentum
ein Umschlag für ›Passfotos in 1 Stunde‹, wie auf der Außenseite zu lesen stand. Darin befanden sich Hochglanzabzüge, die von einem Tagesausflug nach New York stammten. Sie zeigten eine jüngere Liv und daneben einen großen, blonden Mann, der ihr zum Verwechseln ähnlich sah. Das war das letzte Mal gewesen, dass Liv ihren Bruder Samuel lebend gesehen hatte. Sie stopfte die Fotos wieder in den Umschlag, bevor die Gefühle sie übermannen konnten, und schaute sich den kleinen Haufen von Memorabilien aus ihrem alten Leben an, den sie auf dem Bett ausgebreitet hatte. Liv schüttelte den Kopf. Sie durfte jetzt nicht sentimental werden; aber vielleicht konnte irgendetwas hier ihr ja bei der Flucht helfen.
Liv hatte genügend Kleidung, aber kein Bargeld, und ihre Kreditkarten hatte sie schon bis zum Anschlag belastet, als sie die Tickets für den Flug hierher gekauft hatte. Und dann waren da ja noch der Priester und der Cop draußen auf dem Flur. Wenn Liv es irgendwie schaffen könnte, die beiden abzulenken, dann könnte sie sich vielleicht unbemerkt aus dem Zimmer schleichen. Sie dachte an das Pflegepersonal, das immer wieder zur Visite kam. Vielleicht würde ihr ja einer davon helfen, doch da in dem Fall auch immer der Priester den Raum betrat, um alles zu überwachen, wusste sie nicht, wie sie einer Schwester ihren Plan hätte kommunizieren können. Abgesehen davon hatte man die Pfleger und Schwestern vermutlich angewiesen, jeden Kommunikationsversuch sofort zu melden.
Liv stand auf und tapste zum Fenster. Die plötzliche Helligkeit hinter den alten Fensterläden ließ sie unwillkürlich die Augen zusammenkneifen, und was sie dort draußen sah, half ihr auch nicht weiter. Ihr Zimmer befand sich im vierten Stock, und sie entdeckte zwar eine Feuertreppe, doch unglücklicherweise am Gebäude gegenüber. Und da war auch noch der unheimliche Anblick der Zitadelle, die hoch über die Dächer ragte und den Horizont verdunkelte. Liv richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Zimmer und ging erneut alles durch, was sich hier befand. Vielleicht konnte ihr ja doch etwas davon helfen.
Abgesehen von dem Fernseher und dem Bett gab es jedoch nicht viel: einen kleinen Tisch mit einem Krug Wasser und einem Plastikbecher darauf, ein paar Knöpfe am Bett und eine durchsichtige Plastikmappe mit ihren Krankendaten an der Wand. Von der Decke hing eine Schnur mit einem roten Griff daran. Im Notfall konnte ein Patient so Hilfe rufen. Liv fragte sich, was wohl passieren würde, wenn sie daran zog. In den letzten Tagen hatte sie so einen Alarm schon ein paar Mal gehört, und kurz darauf hallten immer Schritte durch den Flur. Aber auch wenn das Chaos den Priester kurz ablenken würde, alle Aufmerksamkeit wäre natürlich auf sie gerichtet; also nutzte ihr das auch nichts. Sie musste sich etwas anderes überlegen.
17
Polizeipräsidium
Die Treppe, die zum Zellenblock führte, hallte von den schweren Schritten der Beamten wider, die auf den Alarm reagierten. Gabriel traf sie auf dem Weg nach oben. Niemand verschwendete auch nur einen Blick an ihn. Sie alle hatten gehört, dass ein Beamter mit Pfefferspray attackiert worden war. Wenn sie nun also auf einen Kollegen trafen, dessen Augen zugeschwollen waren und der nach Luft schnappte, während ein anderer Kollege ihm half, dann liefen sie vorbei, um den Bastard zu schnappen, der dafür verantwortlich war.
Gabriel stützte den Beamten. Er hatte den Arm um ihn gelegt, die Hand, in der er die Waffe hielt, mit der er den Mann bedrohte, an der Wand. In der anderen Hand hielt er ein Walkie-Talkie, das er aus dem Kontrollraum hatte mitgehen lassen, und wann immer jemand vorbeikam, tat er so, als würde er damit reden, damit niemand ihn ansprach.
Sie erreichten das obere Ende der Treppe im selben Augenblick, als wieder zwei Cops durch die Brandschutztür und nach unten stürmten. Gabriel schlüpfte durch die Tür und in einen kurzen Gang. Vor sich konnte er den Empfangsbereich durch ein kleines Fenster in der nächsten Tür sehen. Gabriel atmete tief durch und drückte seinem Gefangenen noch einmal die Waffe in den Schritt, um ihn daran zu erinnern, dass sie da war.
Als sie nur noch wenige Meter von der Tür entfernt waren, klemmte Gabriel sich das Walkie-Talkie unters Kinn, nahm das Pfefferspray vom Gürtel und verabreichte dem Beamten noch eine weitere Ladung mitten ins Gesicht. Dann steckte er die Waffe in den Hosenbund, zog das Hemd darüber und platzte durch die Tür in einen Raum voller
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