Sacramentum
uniformierte Gestalt am Ende des Flurs erschien und durch das Wasser auf ihn zustolperte. Der Mann rief irgendetwas, doch das Zischen des Wassers übertönte ihn, und er hatte den Arm vors Gesicht gehoben.
Lunz fühlte, dass hier irgendwas nicht stimmte. Er zog die Waffe. »Alles okay?«, brüllte er.
Die Gestalt taumelte weiter blind an den nassen Wänden entlang. Mit der einen Hand tastete der Mann sich vorwärts, und mit der anderen wischte er sich immer wieder übers Gesicht. »Pfefferspray«, schrie er. »Jemand hat mich angegriffen … und meine Schlüssel geklaut.«
Lunz starrte an dem Mann vorbei und zu der geschlossenen Tür am Ende des Flurs.
Sie hatten seine Schlüssel.
Sie hatten ihn mit Pfefferspray angegriffen.
Das war kein Fehlalarm. Das war echt!
Lunz schluckte und versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Er stellte sich Arme vor, die am anderen Ende des Blocks zwischen Gitterstäben hindurchgriffen und von außen die Schlüssel in das Schloss fummelten. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie den richtigen gefunden hatten?
Der taumelnde Beamte stolperte die letzten paar Meter durch den Gang und prallte schließlich gegen das Tor, wo er hustend zusammenbrach. Selbst wenn die Gefangenen schon auf dem Weg hierher waren, hätte Lunz noch genug Zeit, das Gitter zu öffnen und den Mann herauszuziehen. Er konnte das schaffen. Aber er musste sofort handeln. Lunz sprang in den Kontrollraum zurück, drückte einen Knopf, und draußen glitt das Gitter auf. Der Beamte lag noch immer am Boden, hustete, schnappte nach Luft und rieb sich mit beiden Händen die brennende Haut. Lunz packte ihn am Arm und zog ihn durch das Tor. Plötzlich hallte ein weiteres Geräusch durch den Korridor, und von hinten ließ ihn eine Stimme zusammenzucken.
»Was ist hier los?«
Die Verstärkung war eingetroffen.
»Ausbruch in Sektion D«, berichtete Lunz. Adrenalin rauschte durch seine Adern.
Die beiden Cops rannten mit gezogenen Waffen an ihm vorbei, blieben aber erst einmal wieder stehen, als sie die Grenze erreichten, wo das Wasser von den Sprinklern herabrauschte. »Schalt das ab, und beeil dich!«
Lunz sprang in den Kontrollraum und drückte einen Knopf, um die Sprinkleranlage auszuschalten. Dann griff er nach dem Telefon und drückte eine Schnellwahltaste. »Wir haben einen Verletzten im Zellenblock«, sagte er und sah auf den Monitoren, wie seine beiden Kollegen sich durch den nassen Flur kämpften. »Der Kollege hat eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht bekommen. Ich bringe ihn jetzt hoch.« Er legte im selben Augenblick wieder auf, als die beiden anderen den Hauptgang erreichten. Noch immer war auf den anderen Monitoren nichts zu sehen. Wer auch immer den Beamten angegriffen hatte, es war ihm noch nicht gelungen, aus seiner Zelle auszubrechen. Lunz entspannte sich wieder ein wenig. Er sah nicht, wie sich die Gestalt hinter ihm erhob, und er bemerkte das Pfefferspray erst, als der Strahl ihn in den Mund traf und ihm den Atem raubte.
16
Zimmer 406, Davlat-Hastenesi-Krankenhaus
Da waren graue Flecken an Griff und Reißverschluss von Livs Reisetasche, Überreste des Graphitpulvers, mit dem die Kriminaltechniker nach Fingerabdrücken gesucht hatten.
Der Inhalt war wie eine Reise in ein vergangenes Leben: Kleidung, Toilettenartikel, Stifte, Notizblöcke. Liv kippte alles aufs Bett und nahm ihren Laptop auf den Schoß. Auch hier fand sie Überreste von Graphitpulver, und es roch schwach nach Klebstoffdämpfen, die man ebenfalls zur Sicherung von Fingerabdrücken verwenden konnte. Sie schaltete den Laptop ein, doch nichts geschah. Die Kriminaltechniker hatten bei ihrer Suche offensichtlich den Akku geleert. Liv besaß zwar ein Ladekabel, doch das hatte einen nordamerikanischen Stecker, der im Süden der Türkei nicht zu gebrauchen war. Zu ihrer Überraschung befand sich auch noch ihr Pass in der Tasche. Sie nahm ihn und starrte den blauen Umschlag mit dem großen Wappen in der Mitte an, unter dem die Worte United States of America zu lesen waren. Liv hatte sich nie als sonderlich patriotisch oder sentimental betrachtet, doch jetzt hätte sie am liebsten geweint. Sie wollte einfach nur noch nach Hause.
Die nächsten beiden Dinge, die sie fand, machten sie auch nicht gerade weniger emotional. Das Erste war ein Schlüsselbund. Liv erinnerte sich daran, wie sie ihre Wohnung damit abgeschlossen und ihn in die Tasche geworfen hatte, bevor sie zu dem Taxi gelaufen war, das sie zum Flughafen gebracht hatte. Das Zweite war
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