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Sacramentum

Sacramentum

Titel: Sacramentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Toyne
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immer träumte. Sie zog die Knie unter das Kinn und wartete auf den nächsten Schrecken, doch niemand klopfte an ihre Tür; die Temperatur im Raum blieb normal, und keine Drachen erschienen in seltsamen Wüstenlandschaften. Was sie hier sah, war real und gerade deshalb umso beunruhigender.
    Liv suchte nach einer vernünftigen Erklärung für den Zustand ihres Zimmers. Entweder war jemand eingebrochen, während sie geschlafen hatte, oder sie hatte im Schlaf irgendeine Art Anfall gehabt und war selbst dafür verantwortlich. Aber ihr Laptop stand noch immer da, wo sie ihn gelassen hatte. Ein Einbrecher hätte ihn doch mit Sicherheit mitgenommen. Die einzige logische Schlussfolgerung war also, dass sie dieses Chaos selbst angerichtet hatte … sie oder was auch immer für eine Wesenheit sie in sich trug.
    Liv schnappte sich ein paar der Papiere, die verstreut auf dem Bett lagen. Es waren Seiten aus der Bibel, die sie im Nachttisch gefunden hatte. Das Cover lag neben dem Bett auf dem Boden. Liv hob es auf. Nur eine Seite darin war unangetastet geblieben, eine Seite aus der Offenbarung des Johannes, und ganz offensichtlich hatte Liv sie nicht aus Zufall verschont. Der größte Teil des Textes auf dieser Seite war wütend durchgestrichen worden, doch ein Abschnitt war noch deutlich zu erkennen:
    … und siehe ein roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen; und sein Schwanz zog den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. Und der Drache trat vor das Weib, die gebären sollte, auf dass, wenn sie geboren hätte, er ihr Kind fräße.
    Und sie gebar einen Sohn, ein Knäblein, der alle Heiden sollte weiden mit eisernem Stab …
    Liv starrte die Worte an. Der schrille Schrei des Drachen drohte noch immer, ihren Kopf zu zerreißen.
    Ein lautes Klopfen an der Tür ließ sie unwillkürlich zusammenzucken.
    »Bitte, begeben Sie sich zur Treppe. Schnell.«
    Der Mann ging den Flur weiter runter, hämmerte an jede Tür und wiederholte seine Aufforderung. Und das Heulen und Kreischen stammte nicht von dem Dämon in Livs Kopf, sondern von einer Feuersirene.
    Rasch zog Liv sich die Sachen an, die sie bereitgelegt hatte, und schnappte sich ihre Tasche.
    Draußen im Flur war die Sirene sogar noch lauter, und Liv hielt sich auf dem Weg zur Treppe die Ohren zu. Es wunderte sie, dass die Verse aus der Offenbarung ihren Albtraum so genau beschrieben hatten. War das nur Zufall gewesen? Vielleicht hatte sie die Textstelle ja unmittelbar vor dem Einschlafen gelesen, und die Bilder waren ihr im Kopf haften geblieben.
    Liv erreichte die Brandschutztür und ging hindurch. Sie fragte sich, ob Gabriel ihre Reise nach Trahpah schon arrangiert hatte. Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie sich sogar darauf freute. Die Aussicht, ihn wiederzusehen, hatte etwas in ihr entfacht. Irgendwie war sie mit ihm verbunden.
    Liv war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht hörte, wie die Tür sich hinter ihr öffnete. Und sie bemerkte den scharfen Chloroformgestank auch erst, als ihr eine Hand so groß wie ihr Kopf das Handtuch aufs Gesicht drückte.
    Liv versuchte zu schreien, doch die Sirene und das Handtuch erstickten den Versuch im Keim. Liv versuchte, die riesige Hand wieder abzuschütteln, doch ihre Arme verloren bereits an Kraft. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, bevor die Dunkelheit sie verschluckte, war eine plötzliche Welle der Angst, als sie das Bild eines Kreuzes als Tattoo auf dem Unterarm des Mannes sah, der sie überfallen hatte.

66
    Dick trat die Tür zu und legte das Mädchen aufs Bett.
    Er schaute auf seine Uhr. Noch immer zehn Minuten, bis er sich wieder zurückmelden musste. Der schwerste Teil war erledigt. Er hatte sie rausgelockt, festgestellt, dass sie alleine war, und nun gehörte sie ihm. Er musste ihr nur noch das Genick brechen und wieder davonschleichen. Ein ›Bitte nicht stören‹-Schild an der Tür würde sicherstellen, dass ihre Leiche frühestens morgen früh entdeckt wurde, und dann wäre er schon längst über alle Berge.
    Dick beugte sich näher an sie heran, um ihr Gesicht zu studieren, und roch eine Mischung aus typischer Hotelseife und Chloroform. Sie hatte klare, fast durchsichtige Haut über feinen Knochen. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und kleine weiße Zähne funkelten in der feuchten Dunkelheit ihres Mundes. Dick beugte sich nahe genug an sie heran, um den warmen Atem auf seiner Haut zu spüren und die winzige Falte

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