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Sacramentum

Sacramentum

Titel: Sacramentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Toyne
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zwischen ihren geschlossenen Augen zu sehen. Er hatte selbst auch so eine Falte. Er hatte sie sich in jahrelangem Selbststudium verdient, größtenteils in Gefängnisbibliotheken.
    Dick griff nach der Reisetasche des Mädchens und kramte nach dem Buch, das sie auf dem Flug gelesen hatte. Er mochte es, etwas zu behalten. Ein Sou-ve-nir . Da so gut wie nichts in der Tasche war, fand er es sofort. Aber er sah auch etwas, das ihm die gute Laune verdarb.
    Dick nahm die Bibel heraus oder besser gesagt, die Überreste davon. Vorsichtig, als hätte er einen verletzten Vogel in der Hand, drehte er sie zwischen seinen Fingern. Das Buch klappte auf, und angewidert sah Dick, dass die einzige verbliebene Seite von oben bis unten vollgekritzelt war. Das Mädchen hatte Gottes Wort zerstört und damit in Dicks Augen die größte aller Sünden begangen.
    Er schaute auf sein bewusstloses Opfer hinab. Jetzt fand er sie gar nicht mehr hübsch. Jetzt wollte er nur noch seinen Job erledigen und weg von hier.
    Draußen verhallte der Feueralarm, und Stille kehrte ein. Dick musste schnell sein, wenn er das verbleibende Chaos noch zu seinem Vorteil nutzen wollte.
    Das Mädchen hatte den Buchrücken der Bibel gebrochen, und nun würde er ihren Rücken brechen. Das hatte etwas Alttestamentarisches: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
    Als Dick ihren Kopf in seine riesigen Hände nahm und die Muskeln anspannte, um ihr das Genick zu brechen, zirpte plötzlich etwas in der Stille des Raums. Er hatte eine SMS bekommen. Dick hätte so gerne gehört, wie das Genick des Mädchens brach, doch sein Instinkt und seine Erfahrung ermahnten ihn zu warten, und seine Disziplin sorgte dafür, dass er dieser Mahnung auch gehorchte. Dick holte das Handy aus der Tasche und öffnete die SMS. Er verzog das Gesicht. Zweimal las er die Nachricht; dann blickte er wieder auf das Mädchen hinab.
    »Du magst Worte«, flüsterte er der schlafenden Gestalt zu. »Nun, ich habe hier eins, das dir gefallen wird: Gna-den-frist .«

67
    Trahpah
    Die Altstadt war den ganzen Morgen über gesperrt gewesen, während man die Erdbebenschäden beseitigt hatte. Als sie kurz nach zwei die Fallgatter schließlich wieder hochzogen, warteten schon Tausende Menschen darauf, zur Kirche oben auf dem Hügel hinaufsteigen zu können, um Gott dafür zu danken, dass er sie verschont hatte. Dr. Anata war eine von ihnen.
    Dr. Anata ließ sich mit der Menge treiben. Dabei fiel ihr auf, dass die Altstadt von dem Beben so gut wie unberührt geblieben schien. Einige der Pilger betrachteten das offensichtlich als ein Wunder, doch Dr. Anata wusste es besser. Das hatte mehr mit Geologie und weniger mit Theologie zu tun. Erdbeben pflanzten sich wellenförmig fort; lockerer Boden begünstigte das also, während massiver Fels wie der, auf dem die Altstadt stand, sie einfach schluckte. Das Erdbeben war hier keineswegs schwächer gewesen; lediglich die Umstände waren andere.
    Dr. Anata brauchte fast vierzig Minuten, bis sie den Gipfel und das kühle, monolithische Innere der alten Kirche erreichte. Sie war bis zum Bersten mit reuigen Sündern gefüllt, und ein stetes Raunen lag in der Luft, egal ob nun von neugierigen Touristen oder Gläubigen, die um Vergebung für ihre Sünden baten oder Gott für ihre Rettung dankten. Gabriel hatte sich angeboten zu gehen, doch da die Stadt allmählich zur Normalität zurückkehrte und überall nach ihm gefahndet wurde, hatten sie schließlich beschlossen, dass Dr. Anata an seiner Stelle gehen sollte. Tatsächlich war sie sogar ein wenig aufgeregt, nun Teil von etwas derart Bedeutendem zu sein. Ihr ganzes Leben lang hatte sie über Geschichte gelesen, doch nun machte sie Geschichte.
    Dr. Anata erreichte die Beichtstühle und reihte sich zwischen den Gläubigen ein, die in den Bänken saßen und ehrfurchtsvoll auf den geschlossenen Vorhang starrten. Auf den Wänden hinter ihnen prangte ein aufwendiges mittelalterliches Fresko, das das Jüngste Gericht zeigte. Dr. Anata fragte sich, ob die anderen sie wohl vorlassen würden, wenn sie wüssten, dass sie hier war, um genau das zu vermeiden. Sie bezweifelte es. Die Menschen waren schon komisch, wenn es ums Schlangestehen ging – selbst wenn das Ende der Welt auf dem Spiel stand –, also richtete sie sich aufs Warten ein. Es dauerte gut zwanzig Minuten, bis sie an der Reihe war und endlich den Vorhang hinter sich schloss.
    Der Beichtstuhl war eng und roch nach Weihrauch und Angst. Dr. Anata hockte sich auf die schmale Bank und drehte

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