Saeculum
nicht. Wenn wirklich jemand da war, dann wollte er nicht entdeckt werden.«
»Unsinn.« Sandra lächelte gezwungen. »Was sollte jemand Wildfremdes hier wollen? Ganz allein?«
Das Thema schien Iris die Lust auf weitere Musik zu nehmen, sie packte ihre Harfe in die Tasche.
»Wie hat er ausgesehen?«
»Keine Ahnung. Wie ein Schatten in der Dämmerung. Erst dachte ich, es wäre ein Tier, aber dann habe ich ihn husten gehört.«
»Husten?«
»Ja. Hörte sich nicht gesund an.«
»Natürlich nicht.« Doros sanfte Stimme. »Er leidet. Er ruht nicht. Er wandelt umher und kann sich das Blut seines Sohnes nicht von den Gebeinen waschen.«
»Nicht schon wieder!« Bastian klang ungehalten, doch es war ihm egal. Es reichte. Er würde sich jetzt schlafen legen, solange das Feuer nicht völlig heruntergebrannt war. So konnte er wenigstens noch ungefähr erahnen, wo sich seine Sachen befanden. Er streckte seine steif gewordenen Beine und stand auf.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Paul. Er stand ebenfalls auf und legte Bastian einen Arm um die Schultern. »Wir brauchen morgen unsere ganze Kraft.« Die vertrauliche Geste befremdete Bastian, dafür zauberte sie endlich ein Lächeln in Lisbeths Gesicht.
Mit leichtem Unbehagen trat Bastian einen Schritt zur Seite, aus Pauls Arm heraus. »Gute Nacht, allerseits, gehabt Euch wohl und lasst Euch nicht von toten Fürsten kitzeln.« Er verbeugte sich übertrieben und steuerte auf seinen Schlafplatz zu.
»Halt!«, schrie Ralf.
»Was denn?«
Mit einer herrischen Geste winkte Ralf ihn zurück. »Wir haben noch keine Wachen eingeteilt. Bei dem Unwetter gestern war nicht an Wachehalten zu denken, aber heute muss es sein.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Wie ist es - übernimmst du die erste Schicht?«
»Ich kann meine Augen kaum noch offen halten.«
»Aber ich!« Steinchen hob die Hand und trat einen Schritt vor. »Ich habe am Nachmittag ein Nickerchen gemacht, ich könnte jetzt ohnehin noch nicht schlafen.«
»Ausgezeichnet. Danach Georg?«
Der winkte missmutig ab, dafür meldete Paul sich freiwillig. Als Dritter wurde Nathan eingeteilt und Bastian akzeptierte seufzend Schicht Nummer vier. Sechs Stunden Schlaf sollten genügen.
»Woher wissen wir, wann eine Schicht vorbei ist?«
»Ich habe Kerzen mitgebracht«, erwiderte Steinchen. »Die sind markiert - jeder Strich bedeutet eine Stunde.«
»Großartige Idee.«
»Ja, unsere Vorfahren waren mit Weisheit gesegnet. Nun wünsche ich Euch einen ruhigen Schlaf.«
Dankbar stolperte Bastian davon. Gleich konnte er sich hinlegen, endlich. Mit jedem Schritt, den er vom Feuer weg machte, wurde es dunkler. Den frisch mit Blättern vollgestopften Leinensack musste er bereits mehr ertasten, als dass er ihn sah.
Er legte sich hin, fest eingewickelt in zwei seiner Decken. Es war warm - und bequemer, als er vermutet hätte. Gähnend schaute er zu den anderen hinüber, verschwommene Gestalten vor niedrig flackerndem Orange. Nach und nach gingen sie zu verschiedenen Seiten davon, am Ende blieb einer übrig - groß und rund und unverkennbar. Steinchen saß vor dem Feuer, warf Fichtenzapfen hinein und sah den Funken beim Fliegen zu.
Etwas riss gewaltsam an Bastians Schlaf, durchbohrte sein Bewusstsein, ließ ihn mit panisch rasendem Herzschlag hochfahren. Ein Schrei, lang gezogen, gequält, unmenschlich. Bastian saß aufrecht im Dunkeln, wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Sein Puls hämmerte schmerzhaft heftig gegen den Brustkorb.
Was schrie da? Ein Mensch? Ein Tier? Es klang, als würde jemandem bei lebendigem Leib die Haut abgezogen.
Die Dunkelheit vor seinen Augen war undurchdringlich, hektisch tastete er um sich, fand Gras und Erde. Irgendwo rechts von ihm bellte Roderick sich die Seele aus dem Leib.
Sie waren nicht allein. Jemand war hier.
Bastian riss die Augen weiter auf, versuchte verzweifelt, etwas zu sehen, doch die Welt um ihn herum war schwarz. Er atmete zitternd aus.
Der Schrei war abgebrochen, jetzt hörte er nur noch unterdrücktes Wimmern. Gedämpfte Laute. Schritte? Er war sich nicht sicher. Nun übertönten die Stimmen der anderen das Geräusch - erschrocken, verstört, verschlafen.
»Was ist das?«
»Weiß nicht. Klang furchtbar.«
»Wie ein Todesschrei.«
»Oh Gott. Ich will etwas sehen. Ich will hier weg.«
Rascheln. Dumpfes Poltern. Ein unterdrückter Schmerzensschrei.
»Verdammt, ist das finster!«
»Bleibt liegen, ihr Idioten, wollt ihr euch den Hals brechen?«
»Aber wir müssen doch …
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