Saeculum
ziemlich.« Ein Teil des Wohlgefühls von eben kehrte zurück. Iris bewegte ihre Füße im See und erzeugte winzige Wellen. »Wer du bist. Was dich antreibt. Was du denkst. Was du fürchtest.«
»In dieser Reihenfolge?«
Sie zuckte mit den Schultern. »In dieser oder in einer anderen. Was ist dir zum Beispiel im Leben am wichtigsten? Was brauchst du unbedingt?«
Er überlegte nur kurz. »Das Gefühl, kein Arschloch zu sein.« Für einen Moment suchte er ihren Blick, dann sah er aufs Wasser hinaus. »Nicht weil ich so ein liebenswerter Mensch bin, sondern weil mir kotzübel wird, sobald ich merke, dass ich andere mies behandle.«
»Oh. Stark.«
»Ja, es klingt bescheuert, ich weiß.« Er hob seine Hand, als wolle er Iris doch noch einmal berühren, ließ sie aber unverrichteter Dinge wieder sinken. »Du denkst, ich sage das nur, um gut dazustehen, nicht?«
»Nein. Ich frage mich, ob du vielleicht deshalb Medizin studierst.«
Er lachte auf, es klang freudlos. »Das hat andere Gründe. Oder auch nicht. Wahrscheinlich hängt das alles zusammen, irgendwie.«
Über dem See flogen zwei große blaue Libellen, umkreisten und verfolgten einander. Bastian ließ sie nicht aus den Augen, während er sprach.
»Sagt dir der Name Maximilian Steffenberg etwas?«
»Äh, nein.«
»Das ist mein Vater. Professor Maximilian Steffenberg, Topchirurg, mehrere Jahre lang Präsident der deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Vorsitzender auf zig Kongressen, Autor von zwölf Büchern, Klinikchef. Und ein Arschloch sondergleichen.« Seine Worte kamen schnell und gepresst, während er immer noch den Flug der Libellen beobachtete.
»In seinem Fach ist er einfach großartig. Manchmal holen sie ihn in die USA oder nach Dubai, um besonders schwierige Eingriffe vorzunehmen. Wenn man ihn kennenlernt, denkt man auch, er wäre ein toller Kerl. Witzig, voller Energie, hochintelligent. Aber weißt du was? In Wahrheit ist er ein furchtbarer Mensch. Und sogar ein furchtbarer Arzt.«
Iris zog die Füße aus dem Wasser. »Das verstehe ich nicht.«
»Die Patienten sind ihm scheißegal. Seine Mitarbeiter sind ihm scheißegal. Und - Überraschung - seine Familie ist ihm ebenfalls scheißegal. Was ihn interessiert, sind Kohle und Ruhm. Er operiert schwierige Fälle, wenn sie entweder extra dafür zahlen oder wenn die Presse die Ohren spitzt. Sonst nicht. Zwei Konkurrenten hat er Klagen wegen Kunstfehlern angehängt, obwohl er wusste, dass sie unschuldig waren. Sie wurden nicht verurteilt, aber ihre guten Namen waren ruiniert. Seine Untergebenen beschimpft er beim kleinsten Fehler wüst, er hält sie klein, spielt sie gegeneinander aus, aber immer nur so weit, dass es keine Konsequenzen hat.« Bastian holte Luft, er war sichtlich noch nicht fertig.
»Er hat uns einmal beim Abendessen erzählt, er hätte einen Oberarzt geohrfeigt, weil der ihm widersprochen hat. Glaubst du, es hätte eine Anzeige gegeben? Nichts. Es hat ihn auch noch keine der Schwestern oder Studentinnen angezeigt, die er sich ins Bett holt.«
Jetzt suchte Bastian erstmals Iris' Blick. Sie nahm seine Hand, hielt sie fest.
»Meine Mutter bescheißt er, seit sie sich kennen. Dreimal wollte sie sich bisher von ihm scheiden lassen, aber davon hält er nichts und deshalb passiert es auch nicht. Sie schießt sich jeden Tag mit einem Pillencocktail ab, der einen normalen Menschen ins Koma befördern würde. Das Zeug besorgt er ihr verlässlich, solange sie nicht muckt.«
»Das ist heftig«, sagte Iris. Sie legte sich Bastians Arm um die Schultern, bettete ihren Kopf an seine Brust. Fühlte sein Herz, spürte, wie er sie fest an sich presste.
»Zwingt er dich, Medizin zu studieren?«, fragte sie.
Die Brust unter ihrer Wange hob sich in einem Seufzen.
»Nein. Er hätte lieber gesehen, dass ich Anwalt werde.«
»Heißt das, du trittst freiwillig in seine Fußstapfen?«
Eine Sekunde lang dachte sie, er würde sie von sich stoßen, doch es war nur ein kurzes Zusammenzucken gewesen.
»Das tue ich nicht. Es ist genau umgekehrt!« Bastian schwieg für einige Atemzüge, dann sprach er langsam, als müsse er jedes Wort gründlich abwägen. »Das Gegenteil eines schlechten Arztes ist nicht kein Arzt, sondern ein guter Arzt. Ich möchte alles werden, was er nicht ist. Ich will, dass er sich die Haare rauft, wenn er sieht, dass ich meine Ausbildung dazu nutze, Asylbewerber ohne Krankenversicherung zu behandeln oder so etwas in der Art.«
Wieder eine Pause.
»Das klingt jetzt so, als wäre ich
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