Saeculum
an den Fersen. Ich wollte bei einer Freundin unterschlüpfen. Kaum war ich in ihre Straße eingebogen, sah ich ihn dort am Hauseingang stehen. Wartend. Ich bin einfach weggerannt, zum Bahnhof, ohne Fahrkarte in die nächste Stadt gefahren. Zwei Tage später war er auch da. Ich glaube, er nimmt meine Witterung auf wie ein Jagdhund.«
Sie hielt inne. Wünschte sich, dass Bastian etwas sagen würde, und fürchtete gleichzeitig, es könnte etwas Dummes sein. Doch er schwieg, nur seine Augen ermunterten sie weiterzusprechen.
»Das Problem war, ich brauchte Geld. Also spielte ich in Fußgängerzonen, immer nur einen Tag, dann sprang ich in den nächsten Zug, fuhr weiter. Man verdient dabei nicht schlecht, weißt du. Die Mittelaltermärkte waren mein zweites Standbein. Musik machen, Arbeit als Standaushilfe, Mädchen für alles. In den Menschenmassen kann man sich gut verstecken. Drei Monate und vier Tage lang bekam ich Simon nicht zu Gesicht. Und dann war er eines Tages da. Stand mitten in der Stuttgarter Fußgängerzone, in einem Haufen applaudierender Menschen, und als keiner hinsah, machte er diese Hals-ab-Geste.« Sie schluckte unwillkürlich, weil sie spürte, wie ihre Kehle enger wurde. Wie von kräftigen Händen zugedrückt.
»Ich habe meine Sachen an mich gerafft und bin davongerannt, solange noch viele Leute da waren. Ich dachte, sie würden ihn aufhalten, wenn er mir nachsetzt. Bin zum Bahnhof gerannt und in den ersten Zug gesprungen. Nach Hannover.«
Ganz langsam hob Bastian eine Hand und nahm eine ihrer Haarsträhnen zwischen die Finger. »Das hier … der Schnitt, die vielen Farben …«
»Sollte Tarnung sein.« Die Worte waren nicht mehr als ein Krächzen. »Ich habe sie alle paar Wochen umgefärbt, mal blond, dann braun, dann ganz schwarz. Was natürlich sinnlos ist, solange ich Geld verdienen muss und mich nicht richtig verstecken kann. Aber ich habe mich jedes Mal ein bisschen sicherer gefühlt, wenigstens ein paar Tage lang.« Iris nahm eine ihrer Strähnen - rotbraun - und zog sie sich bis vor die Nase. »Ich habe auch ständig an ihnen rumgeschnippelt. Vor einem Jahr hatte ich noch Haare fast bis zur Taille.«
Er sagte kein Wort, doch sie konnte sehen, dass er versuchte, sich die alte Iris vorzustellen. Sie wandte den Kopf zur Seite, dem See zu. Jetzt war er dran mit Reden. Los, Musterknabe, sag was Kluges. Oder sag »Ach, du armes Mädchen« , dann müssen wir in Zukunft kein Wort mehr miteinander wechseln.
»Hast du einen Masterplan?«
Einen was? »Was meinst du mit Masterplan?«
»Im Moment läufst du nur davon, oder? Das ist keine Dauerlösung, das macht dich kaputt.« Er strich ihr eine der längeren Haarsträhnen hinters Ohr. »Würdest du noch mal zur Polizei gehen? Wenn ich dich begleite?«
»Auf keinen Fall. Nein. Ich spare, so viel ich kann, und kaufe mir dann ein Ticket nach Neuseeland. Mal sehen, ob mein Vater was taugt, vorausgesetzt, ich finde ihn. In Wellington gibt es eine sehr gute Musikakademie, dort möchte ich studieren.«
Es war schwierig, Bastians Gesichtsausdruck zu deuten. Ein bisschen Traurigkeit lag darin, etwas Grüblerisches und jede Menge Skepsis. »Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«
»Absolut. Dort kann er mich nicht finden. Ich bringe den halben Globus zwischen uns, dann kann er suchen, bis er krepiert, der rothaarige Drecksack.«
Bastian zuckte zusammen, als hätte sie ihn geohrfeigt, sein Blick irrlichterte nach rechts, nach links, quer über den See.
Sie begriff sofort, was los war. Kälte kroch ihre Wirbelsäule hoch. »Du hast ihn gesehen.«
»Nein. Also, das heißt … nein. Nein, habe ich nicht.«
»Wo war es? Los, komm, hör auf, mich anzulügen! War es hier? Im Wald?« Sie sah die Antwort in seinen Augen, entzog ihm ihre Hand und sprang auf. Prüfte die Umgebung, jeden einzelnen Baum diesseits und jenseits des Sees. Wenn er hier war, würde er sich in ihrer Nähe aufhalten. Aber wie war es möglich, dass er ihr gefolgt war? Sie hatte so gut aufgepasst.
Bastians Hände legten sich behutsam auf ihre Schultern. »Ich habe dich nicht angelogen. Ich habe wirklich niemanden gesehen. Nur … etwas sehr Rotes, das hinter einem Baum verschwunden ist. Aber du weißt ja, wie blind ich ohne Brille bin. Ich dachte im ersten Moment, es wäre jemand mit rotem Haar gewesen, aber vielleicht war es auch ein Reh.«
Er ist dir auch nahe, wenn du ihn nicht siehst …
»Wir gehen zurück zu den anderen«, sagte Iris. »Schnell.«
… und möchte dir
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