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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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wollte Warwara Stawrogina einen Besuch abstatten. Aber vielleicht bin ich nicht willkommen?
    STEPAN
    Nein, nein! Beim Gastmahl der Freundschaft ist immer ein Platz frei. Wir haben zu diskutieren. Aber ich weiß ja, dass Sie vor Paradoxa keine Angst haben.
    GAGANOW
    Abgesehen vom Zaren, von Russland und der Familie darf man über alles diskutieren. (Zu SCHATOW ) Nicht wahr?
    SCHATOW
    Man darf über alles diskutieren. Aber sicher nicht mit Ihnen.
    STEPAN (lacht)
    Lasst uns auf die Bekehrung unseres guten Freundes Gaganow trinken.
    (Er läutet.)
    Falls Schatow, der jähzornige Schatow, es uns erlaubt. Denn unser guter Schatow ist jähzornig, er kocht leicht über. Wer mit ihm diskutieren will, muss ihn erst mal fesseln. Sehen Sie, schon will er gehen. Er ärgert sich. Kommen Sie, mein Freund, Sie wissen doch, dass wir Sie mögen!
    SCHATOW
    Dann beleidigen Sie mich nicht.
    STEPAN
    Wer beleidigt Sie denn? Falls ich das war, bitte ich um Verzeihung. Ich weiß, wir reden zu viel. Wir reden, dabei müsste man handeln. Handeln, handeln … oder wenigstens arbeiten. Seit zwanzig Jahren lasse ich meinen Weckruf ertönen und fordere zur Arbeit auf. Damit Russland aufsteht, braucht es Ideen. Wer Ideen haben will, muss arbeiten. Machen wir uns also an die Arbeit, und dann haben wir irgendwann vielleicht eine eigene Idee …
    ( ALEXEJ JEGOROWITSCH bringt Getränke und geht wieder hinaus.)
    LIPUTIN
    Zuerst einmal müsste man Armee und Flotte abschaffen.
    GAGANOW
    Gleich beide?
    LIPUTIN
    Ja, um den Weltfrieden herzustellen!
    GAGANOW
    Aber wenn die anderen sie nicht abschaffen, werden sie dann nicht in Versuchung geführt, bei uns einzumarschieren? Wie soll man das wissen?
    LIPUTIN
    Indem wir Armee und Flotte abschaffen. Dann werden wir ja sehen.
    STEPAN (zappelnd)
    Ah! Da haben wir ein schönes Paradoxon! Aber es ist etwas Wahres daran …
    WIRGINSKI
    Liputin geht zu weit, weil er keine Hoffnung mehr hat, dass sich unsere Ideen irgendwann durchsetzen. Ich hingegen meine, wir sollten beim Anfang anfangen und sowohl die Priester als auch die Familie abschaffen.
    GAGANOW
    Meine Herren, ich begreife ja diese ganzen Scherze, aber auf einen Schlag die Armee, die Flotte, die Familie und die Priester abschaffen, also wirklich, nein, nein und nochmals nein.
    STEPAN
    Es ist nichts Schlechtes daran, darüber zu reden. Reden kann man über alles.
    GAGANOW
    Aber alles abschaffen, einfach so, auf einen Schlag? Nein, nein, nein …
    LIPUTIN
    Glauben Sie nicht auch, dass Russland reformiert werden muss?
    GAGANOW
    Oh ja, ganz sicher. Nicht alles ist bei uns perfekt.
    LIPUTIN
    Also muss es zerschlagen werden.
    STEPAN (zusammen mit GAGANOW )
    Wie bitte?
    LIPUTIN
    Ja, Sie hören recht. Um Russland zu reformieren, muss man eine Föderation daraus machen. Aber für einen Staatenbund muss es erst in Einzelstaaten zerlegt werden. Reine mathematische Notwendigkeit.
    STEPAN
    Das wäre eine Überlegung wert.
    GAGANOW
    Ich … Oh nein, ich lasse mich nicht an der Nase herumführen!
    WIRGINSKI
    Um zu überlegen, braucht man Zeit. Das Elend wartet aber nicht.
    LIPUTIN
    Es ist brandeilig. Und das Eiligste wäre, dass alle Menschen genug zu essen haben. Bücher, Salons, Theater können bis später warten, das hat Zeit … Ein Paar Stiefel ist mehr wert als Shakespeare.
    STEPAN
    Oh! Das kann ich nicht so stehenlassen. Nein, nein, mein lieber Freund, das unsterbliche Genie überstrahlt alle Menschen. Shakespeare soll hochleben, und wenn alle barfuß gehen müssten …
    SCHIGALEW
    Sie alle hier ziehen nicht die Konsequenzen.
    (Er geht ab.)
    LIPUTIN
    Sie erlauben …
    STEPAN
    Nein, nein, das kann ich nicht erlauben. Wir, die wir das Volk lieben …
    SCHATOW
    Sie lieben das Volk nicht.
    WIRGINSKI
    Wie bitte? Ich …
    SCHATOW (im Stehen, wütend)
    Sie lieben weder Russland noch das Volk. Sie haben den Kontakt mit ihm verloren, sie reden über das Volk wie über einen mitleiderregenden, fernen Stamm mit seltsamen Gebräuchen. Sie haben es verloren, und wer kein Volk hat, hat keinen Gott. Aus diesem Grunde sind Sie alle, sind wir alle, ja wir, nichts als jämmerlich, abgestumpft und fehlgeleitet. Sie auch, Stepan Trofimowitsch, ich nehme Sie nicht davon aus, lassen Sie sich das gesagt sein, obwohl Sie unser aller Lehrer waren. Ich habe sogar ganz besonders Sie gemeint!
    (Nimmt seine Mütze und stürzt zur Tür. Doch STEPAN TROFIMOWITSCH s Stimme hält ihn auf.)
    STEPAN
    Bitte sehr, Schatow, wenn Ihnen daran liegt, ich bin Ihnen böse. Aber jetzt versöhnen wir

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