Saemtliche Dramen
in der Ansicht, dass man zwei, drei Dutzend Lehrer beispielsweise bei lebendigem Leibe häuten sollte, denn Ihre Lehrer haben dafür gesorgt, dass Sie bis jetzt in der Lüge leben.
MONSIEUR VIGNE
Hui, Sie gehen ja ran! Und was wollen Sie damit sagen?
MONSIEUR NÉANT
Ich will sagen, Monsieur, dass nichts einen Grund hat und alles auf Zufall beruht.
MONSIEUR VIGNE
Sollte ich Ihnen hier gegenübersitzen, Bürgermeister meiner Gemeinde, Apotheker meines Standes, Vater einer hübschen Tochter, all das ohne jeden Grund? Wie soll das gehen?
MONSIEUR NÉANT
Weil diese Welt absurd ist.
MONSIEUR VIGNE
Und warum ist diese Welt absurd?
MONSIEUR NÉANT
Weil sie restlos unerklärlich ist.
MONSIEUR VIGNE
Und warum ist sie restlos unerklärlich?
MONSIEUR NÉANT
Weil sie absurd ist.
MONSIEUR VIGNE
Schon sehe ich klar, Monsieur, und kann mir ohne weiteres erklären, warum die Welt unerklärlich ist.
MONSIEUR NÉANT
Ihre Intelligenz gereicht Ihnen zur Ehre.
MONSIEUR VIGNE
Mein Gott, wie mich diese Philosophie befriedigt! Ich spüre, dass ich sie unverzüglich übernehmen werde.
MONSIEUR NÉANT
Daran täten Sie gut. Denn diese Philosophie entspricht nicht nur der Mode. Sie ist auch ganz und gar heroisch.
MONSIEUR VIGNE
Heroisch? Ah, ich lasse Sie nicht gehen, bevor sie mir den Grund dafür gesagt haben.
MONSIEUR NÉANT
Der Grund ist dieser: Man muss hinnehmen, dass die Welt unerklärlich ist.
MONSIEUR VIGNE
Wo ist der Heroismus, wenn man hinnimmt, was man nicht verweigern kann?
MONSIEUR NÉANT
Eben.
MONSIEUR VIGNE
Eben?
MONSIEUR NÉANT
Eben, das ist ja der Vorzug dieser neuen Philosophie. Früher musste man, um heroisch zu sein, irgendetwas getan haben, heute hingegen und dank dieser schönen Gedanken ist man ein Held, ganz ohne etwas zu tun.
MONSIEUR VIGNE
Monsieur, ich sage Ihnen ganz offen, ich werde Ihnen blind folgen, denn seit ich denken kann, habe ich etwas Heroisches tun wollen, nur die Umstände haben mich bisher daran gehindert.
MONSIEUR NÉANT
Es ist schon jetzt getan, Sie sind fortan ein Held.
MONSIEUR VIGNE
Ah, Monsieur, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mir diese Philosophie gefällt. Ich werde sie ringsum in dieser Gemeinde verbreiten, auf dass jeder seinen Nutzen daraus ziehen kann und jedermann in meinem Bekanntenkreis wisse, dass es einzig und allein bei ihm liegt, ein Held zu sein.
MONSIEUR NÉANT
Zuvor jedoch muss ich Sie weiter in dieses schöne System einführen, dessen erste Wunder ich Ihnen jetzt vorgeführt habe. Wenn dieses Pröbchen Ihnen gefallen hat, kann ich Ihnen den Rest zeigen und Ihnen beispielsweise beibringen, dass Sie frei sind, weil Sie nichts sind, und dann kann ich Ihnen dieses Werk überlassen, gegen eine angemessene Entschädigung, versteht sich.
MONSIEUR VIGNE
Kommen Sie, Monsieur, sprechen Sie unverzüglich, ich brenne darauf, dieser neuen Religion beizutreten. Und ich schwöre Ihnen auf dieses Buch selbst, Sie werden großzügig für Ihre Mühe entlohnt werden.
(Sie gehen nach hinten, wo MONSIEUR NÉANT den Folianten hinlegt und aufschlägt, mit dem sie die gesamte folgende Szene ringen werden. Pantomimisch.
SOPHIE und MONSIEUR MÉLUSIN kommen herein.)
SOPHIE
Machen Sie schon.
MONSIEUR MÉLUSIN
Nein, das ist Ihre Sache.
SOPHIE
Sie müssen mit ihm reden.
MONSIEUR MÉLUSIN
Aber Sie müssen ihn vorbereiten.
SOPHIE
Jetzt seien Sie ein Mann!
MONSIEUR MÉLUSIN
Das bin ich ganz sicher! Aber was tut das zur Sache?
SOPHIE
Das tut zur Sache, dass Sie, wenn Sie mich heiraten wollen, jetzt und hier mit meinem Vater reden müssen.
(Hinten verabschiedet sich MONSIEUR NÉANT von MONSIEUR VIGNE .)
MONSIEUR MÉLUSIN
Oh Gott, Sie werden alles verderben, weil Sie es übereilen.
SOPHIE
Und Sie werden mich verlieren, weil Sie es hinauszögern.
MONSIEUR MÉLUSIN
Sie verlieren?
SOPHIE
Ja, denn ich kann nur einen Mann heiraten, das liegt in der Natur der Dinge, und Sie sagen mir, dass Sie keiner sind.
MONSIEUR MÉLUSIN
Aber ich liebe Sie.
SOPHIE
Und ich hasse Sie.
( MONSIEUR VIGNE kommt mit tief nachdenklicher Miene, das Buch unter dem Arm.)
Da kommt er.
MONSIEUR MÉLUSIN
Himmel, hilf! (Er flieht.)
SOPHIE
Ah, der Feigling! Und so einen muss ich lieben. (Geht ihrem Vater entgegen) Vater, ich möchte mit Ihnen über Monsieur Mélusin reden, der mich von ganzem Herzen liebt.
MONSIEUR VIGNE
Das ist mir nur recht, liebe Tochter. Nur will mir scheinen, dass es gar nicht so einfach ist, von ganzem Herzen zu lieben, da braucht man
Weitere Kostenlose Bücher