Saemtliche Dramen

höhere Wahrheit gibt, sogar überhaupt keine Wahrheit, dass alles auf Zufall beruht, dass es Rauch auch ohne Feuer gibt und alles vollkommen nutzlos ist.
    MADAME VIGNE
    Oh ja, wenn ich das nicht falsch verstehe, dann scheinen Sie mir den Verstand zu verlieren. Statt daherzureden wie ein Erzbischof, sollten Sie lieber ein Auge auf Ihren kleinen Angestellten haben, der jetzt gerade kurz davor ist zu platzen, weil er zu viel von dem Mäusespeck und dem süßen Gelee in Ihrem Laden genascht hat.
    MONSIEUR VIGNE
    Das wird ihm eine Lehre sein, liebe Frau. Es ist vollkommen gleichgültig, ob er Mäusespeck und Gelee nascht, ob er davon platzt oder nicht platzt.
    MADAME VIGNE
    Ah, ich verstehe, das ist mal wieder eine von Ihren Launen. Heute Abend haben Sie dann Fieber, und morgen brauchen Sie einen Einlauf, wie üblich.
    MONSIEUR VIGNE
    Reden Sie nicht so vulgär, Madame, und schreiben Sie nicht das, was von reiner, edler Erkenntnis rührt, irgendwelchen Launen zu.
    MADAME VIGNE
    Das ist tatsächlich mal eine neue Wissenschaft, mit der Sie es weit bringen werden. Gut, gut, es sei, wie Sie wünschen, und da alles vollkommen nutzlos ist, werden Sie heute nicht zu Abend essen, während ich mich weiter in Unwissenheit und Irrtum suhle und diese schön fette Schweinshaxe verzehre, die Gott, ja, Gott selbst, uns heute früh gesandt hat.
    MONSIEUR VIGNE
    Ah! Sie haben es noch nicht recht verstanden, meine liebe Frau, ich muss dennoch zu Abend essen, auch wenn alles vollkommen nutzlos ist.
    MADAME VIGNE
    Das ist ja sehr lustig, mein lieber verrückter Gatte, und ich will mit Freuden hören, wie Sie mir das nun wieder erklären.
    MONSIEUR VIGNE
    Oh! Ja, ähm … kurz, es ist zu Ihrem eigenen Besten, wenn ich zu Abend esse.
    MADAME VIGNE
    Tatsächlich?
    MONSIEUR VIGNE
    Ganz gewiss, denn … (zögert, dann hellt sich sehr schnell seine Miene auf) … denn nach dem, was ich jetzt weiß, bin ich nichts ohne Sie, und ich bin mir schuldig, zu sein, was ich bin, indem ich Ihnen helfe, zu sein, was Sie sind, woraus folgt, dass ich, da ich bin, was ich bin, tun muss, was Sie tun, und da Sie sind, wer Sie sind, müssen Sie mich tun lassen, was ich tun muss, damit Sie und ich sind, was wir sind. Das ist der Grund, aus dem ich zu Abend essen muss. Ist das klar?
    MADAME VIGNE
    So klar, dass ich sogleich zur Irrenanstalt gehe und um Hilfe bitte.
    MONSIEUR VIGNE
    Ah! Dass die Frauen immer so dumm und für höhere Gedanken unzugänglich sind. Lassen Sie sich sagen, Madame, dass dies alles in einer einzigen Formel in diesem Buch zusammengefasst wird, die ich in goldenen Lettern an die Fassade unseres Hauses prägen lassen werde.
    MADAME VIGNE
    Dann verraten Sie mir diesen Satz, bevor ich Hilfe hole.
    MONSIEUR VIGNE (blättert in dem Buch)
    Gleich habe ich ihn – wo steht dieses Wunder nur? … «Werden, und dabei sein …» Nein, das ist es nicht … Er muss doch zu finden sein … «Neu machen, was man ist …» Nein, immer noch nicht. – Ah! Warum finde ich ihn nicht? Ich hätte ihn mit einem Eselsohr markieren sollen. Mein Gedächtnis ist verwirrt, ich habe heute zu viel Neues gelernt. Monsieur Néant! Monsieur Néant!
    MADAME VIGNE
    Monsieur Néant?
    MONSIEUR VIGNE
    Ja, das ist der Mann, der mich das alles gelehrt hat. Er ist mein Vater, mein Bruder, meine Familie und meine Religion.
    MADAME VIGNE
    Oh! Dann brauchen Sie ihn ja nur noch zu heiraten.
    MONSIEUR VIGNE (außer sich)
    Reizen Sie mich nicht, Madame, es wäre durchaus möglich! ( MONSIEUR NÉANT kommt herein.) Ah! Mein lieber Monsieur Néant, würden Sie für Madame Vigne die Formel wiederholen, die Sie mir vor einer guten Viertelstunde beigebracht haben?
    MONSIEUR NÉANT
    Madame Vigne?
    MONSIEUR VIGNE
    Ja, das ist die Frau hier, sie hat ein gutes Wesen, wenn sie auch ein wenig verstockt wirkt. Sie werden sie ebenso schnell überzeugen, da bin ich sicher, wie vorhin mich.
    MONSIEUR NÉANT
    Die Formel ist schlicht und jedem mittelmäßigen Verstand zugänglich. Hier ist sie: «Sich machend sein und machen, dass dies sei, heißt sein für jedermann, ohne irgendetwas zu sein.»
    MONSIEUR VIGNE
    Ah! welch schöner Gedankengang!
    MADAME VIGNE
    Was soll das sein, bei der Tugend meiner Mutter?
    MONSIEUR NÉANT
    Das, Madame, ist eine Zusammenfassung der Lage des Menschen.
    MONSIEUR VIGNE
    Außerdem, liebe Frau, ist das das Neueste, was an schönen Gedanken in Paris derzeit im Schwange ist.
    MADAME VIGNE
    Und dieser Herr hier bringt uns diese neue Ware?
    MONSIEUR VIGNE
    Ja, meine