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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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abwischen? (Er blättert in einer Akte.) Nirgends. Das ist in den Vorschriften nicht vorgesehen.
    DER MANN
    Aber ich kann so nicht rumlaufen!
    NADA
    Warum nicht? Was macht dir das schon, du darfst deine Frau nicht berühren. Außerdem ist es gut für deinen Fall.
    DER MANN
    Wie, gut?
    NADA
    Ja. Es demütigt dich, also ist es gut. Aber wieder zu deinem Laden. Wie möchtest du verfahren? Nach Artikel 208 von Kapitel  62 des 16 . Rundschreibens bezüglich des 5 . Generalreglements oder aber nach Abschnitt  27 von Artikel 207 des 15 . Rundschreibens bezüglich des Privatreglements?
    DER MANN
    Die kenne ich beide nicht!
    NADA
    Wie auch! Natürlich kennst du sie nicht. Ich auch nicht. Aber man muss sich entscheiden, also lassen wir beide auf einmal für dich gelten.
    DER MANN
    Das ist großzügig, Nada, vielen Dank.
    NADA
    Bedank dich nicht. Offenbar gibt dir der eine Artikel die Erlaubnis, ein Geschäft zu führen, und der andere verbietet dir, darin etwas zu verkaufen.
    DER MANN
    Was soll das?
    NADA
    Das ist die Vorschrift! (Eine verzweifelte FRAU kommt angelaufen.) Was ist los, Frau?
    DIE FRAU
    Die haben mein Haus beschlagnahmt.
    NADA
    Gut so.
    DIE FRAU
    Und Büros darin untergebracht.
    NADA
    Selbstverständlich!
    DIE FRAU
    Aber ich sitze auf der Straße, dabei wurde mir eine neue Wohnung versprochen!
    NADA
    Siehst du, wir denken an alles!
    DIE FRAU
    Ja, aber ich muss erst einen Antrag stellen, und der dauert! So lange sitzen meine Kinder auf der Straße.
    NADA
    Noch ein Grund, schnell den Antrag zu stellen. Füll das hier aus.
    DIE FRAU (nimmt das Formular entgegen)
    Geht es dann auch schnell?
    NADA
    Wenn du eine Dringlichkeitsbescheinigung beschaffst, vielleicht.
    DIE FRAU
    Was ist das?
    NADA
    Ein Stück Papier, auf dem steht, dass es dir dringlich ist, nicht mehr auf der Straße zu sitzen!
    DIE FRAU
    Meine Kinder haben kein Dach mehr überm Kopf, was könnte es Dringlicheres geben?
    NADA
    Du bekommst keine Wohnung, weil deine Kinder auf der Straße sitzen, sondern du bekommst eine Wohnung, weil du die Bescheinigung beschaffst. Das ist nicht dasselbe.
    DIE FRAU
    So etwas habe ich noch nie gehört. So spricht der Teufel, und niemand versteht ihn!
    NADA
    Das ist kein Zufall, Frau. Es geht darum, so zu reden, dass niemand es versteht, obwohl es dieselbe Sprache ist. Und ich kann dir sagen, der vollkommene Tag ist nicht mehr fern, an dem jeder redet, ohne auf Verständnis zu stoßen, und an dem die beiden Redeweisen in dieser Stadt sich gegenseitig so restlos zerstören, dass alles auf die höchste Vollendung zuläuft, nämlich auf Schweigen und Tod.
    DIE FRAU (während NADA spricht)
    Gerechtigkeit ist, wenn die Kinder genug zu essen haben und nicht frieren. Gerechtigkeit ist, wenn meine Kleinen leben. Ich habe sie in ein Land der Freude geboren. Das Meer war ihr Taufwasser. Mehr Reichtum brauchen sie nicht. Ich verlange nichts für sie außer ihr tägliches Brot und den Schlaf der Armen. Das ist nichts, und doch verweigert ihr es uns. Und wenn ihr den Unglücklichen das Brot verweigert, bringen weder Luxus noch schöne Worte noch phantastische Versprechungen sie dazu, euch das zu verzeihen.
    NADA (während die FRAU spricht)
    Ihr solltet lieber auf den Knien leben als aufrecht sterben, dann bleibt die Welt in der vom Winkelmaß der Galgen vorgegebenen Ordnung, hier stille Tote, dort gut gedrillte Ameisen, ein puritanisches Paradies ohne Protz und Prunk, in dem prachtflügelige Polizeiengel patrouillieren, zwischen glücklichen, papier- und paragraphensatten Passanten, die auf den Knien liegen vor dem mit Orden behängten Gott, dem Zerstörer aller Dinge, der nur eines will, nämlich den wurmstichigen Wahn einer allzu willkürlichen Welt wegfegen.
    NADA (allein weiter)
    Es lebe nichts! Niemand versteht mehr den anderen: Dies ist der vollkommene Tag!
    (Licht in die Bühnenmitte. Man sieht silhouettenhaft Baracken und Stacheldraht, Wachtürme und andere menschenfeindliche Vorrichtungen. DIEGO kommt herein, gehetzt, die Maske vorm Gesicht. Er sieht die Bauten, das Volk und die PEST .)
    DIEGO (zum CHOR )
    Wo ist Spanien? Wo ist Cádiz? All das hier gehört zu keinem Land! Das ist eine andere Welt, in der kein Mensch leben kann. Warum seid ihr stumm?
    DER CHOR
    Wir haben Angst! Wenn doch Wind aufkäme …
    DIEGO
    Ich habe auch Angst. Es tut gut, seine Angst herauszuschreien. Schreit, der Wind wird euch antworten.
    DER CHOR
    Wir waren Menschen, jetzt sind wir Menschenmaterial! Wir wurden eingeladen, jetzt werden wir

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