Saemtliche Dramen
vorgeladen! Wir verkauften einander Brot und Milch, jetzt werden uns Rationen zugeteilt! Wir treten auf der Stelle. (Sie treten auf der Stelle.) Wir treten auf der Stelle und sagen, keiner kann dem anderen helfen, wir müssen warten, an unserem Platz, an dem Ort, der uns zugewiesen ist! Wozu aufbegehren? Unsere Frauen haben nicht mehr die blühenden Gesichter, die uns vor Lust den Atem stocken ließen, Spanien ist verschwunden! Wir treten auf der Stelle! Wir treten auf der Stelle! Oh weh! Wir treten uns selbst zu Boden! Wir ersticken, eingesperrt in dieser Stadt! Ach, wenn doch Wind aufkäme …
DIE PEST
Das ist wahre Weisheit. Tritt näher, Diego, jetzt, wo du verstanden hast.
(Am Himmel das Geräusch der Streichungen.)
DIEGO
Wir sind unschuldig! (Die PEST bricht in Gelächter aus.) Unschuldig, du Henker, verstehst du, unschuldig!
DIE PEST
Unschuldig? Was soll das sein?
DIEGO
Dann komm. Der Stärkere soll den anderen töten.
DIE PEST
Der Stärkere bin ich, du Unschuldiger. Schau. (Er winkt den WACHEN , die auf DIEGO zugehen. Dieser flieht.) Haltet ihn! Er darf nicht entkommen. Wer flieht, gehört uns! Zeichnet ihn.
(Die WACHEN laufen DIEGO hinterher. Pantomimische Verfolgung durchs Bühnenbild. Trillerpfeifen. Alarmsirenen.)
DER CHOR
Er rennt! Er hat Angst und sagt es. Er kann sich nicht beherrschen, er ist verrückt! Wir hingegen, wir sind klug geworden. Wir werden verwaltet. Aber in der Stille der Büros hören wir einen langen, unterdrückten Schrei, den Schrei der getrennten Herzen, der uns vom Meer unter der Mittagssonne erzählt, vom abendlichen Duft des Schilfs, von den kühlen Armen unserer Frauen. Unsere Gesichter sind versiegelt, unsere Schritte abgezählt, unsere Stunden geregelt, aber unsere Herzen weigern sich zu verstummen. Sie verweigern sich den Listen und Karteien, den endlosen Mauern, den vergitterten Fenstern, den von Gewehren starrenden frühen Morgen. Sie verweigern sich, genau wie er, der wegläuft, zu einem Haus, weg aus dieser Welt aus Schatten und Zahlen, um endlich eine Zuflucht zu finden. Aber die einzige Zuflucht ist das Meer, von dem diese Mauern uns trennen. Wenn Wind aufkäme, dann könnten wir endlich durchatmen …
( DIEGO ist tatsächlich in einem Haus verschwunden, vor dessen Tür die WACHEN Posten beziehen.)
DIE PEST (kreischend)
Zeichnet ihn! Zeichnet sie alle! Sogar was sie nicht sagen, ist noch zu hören! Sie können nicht mehr protestieren, aber ihr Schweigen geht durch Mark und Bein! Zerschlagt ihnen die Münder! Knebelt sie und prägt ihnen die Schlagworte ein, bis alle immer dasselbe sagen, bis sie endlich gute Bürger sind, wie wir es brauchen. (Von oben fallen dröhnend wie aus Lautsprechern Wolken von Slogans, die immer lauter wiederholt werden und den mit geschlossenen Mündern dastehenden CHOR bedecken, bis völlige Stille herrscht.)
– Eine Pest, ein Volk!
– Konzentriert euch, exekutiert euch, macht euch nützlich!
– Eine gute Pest ist besser als zwei Freiheiten!
– Deportiert, foltert, es gibt immer was zu tun!
(Licht auf den RICHTER .)
VICTORIA
Nein, Vater, du kannst unsere alte Magd nicht ausliefern, weil sie angeblich infiziert ist. Vergiss nicht, sie hat mich aufgezogen und dir immer klaglos gedient.
DER RICHTER
Wer wagt es, meine Entscheidungen zu kritisieren?
VICTORIA
Du kannst nicht alles entscheiden. Auch der Schmerz hat ein Recht.
DER RICHTER
Ich habe dieses Haus zu schützen und zu verhindern, dass das Übel hier eindringt. Ich … (Plötzlich kommt DIEGO herein.) Wer hat dir erlaubt, hier hereinzukommen?
DIEGO
Die Angst treibt mich her! Ich fliehe vor der Pest.
DER RICHTER
Du fliehst nicht vor ihr, du bringst sie mit. (Zeigt mit dem Finger auf DIEGO , an dessen Achsel das Pestmal zu sehen ist. Stille. Zwei, drei Pfiffe in der Ferne.) Verlass mein Haus.
DIEGO
Schütze mich! Wenn du mich wegjagst, tun sie mich zu den anderen, und der Tod hat freies Spiel.
DER RICHTER
Ich bin der Diener des Gesetzes, ich kann dich nicht aufnehmen.
DIEGO
Du hast dem alten Gesetz gedient. Mit dem neuen hast du nichts zu schaffen.
DER RICHTER
Ich diene dem Gesetz nicht wegen seines Inhalts, sondern weil es Gesetz ist.
DIEGO
Und wenn das Gesetz verbrecherisch ist?
DER RICHTER
Wenn das Verbrechen Gesetz wird, ist es kein Verbrechen mehr.
DIEGO
Und dann wird die Tugend bestraft!
DER RICHTER
In der Tat, sie wird bestraft, wenn sie sich anmaßt, das Gesetz zu bezweifeln.
VICTORIA
Casado, du folgst nicht dem Gesetz,
Weitere Kostenlose Bücher