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Saemtliche Dramen

Saemtliche Dramen

Titel: Saemtliche Dramen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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gesehnt. Und jetzt soll ich erst als Toter Ehre erlangen?
    DIE PEST
    Ich hab’s ja gesagt, der Stolz bringt sie um. Aber ich werde alt, allmählich macht mich das müde. (Mit harter Stimme) Mach dich bereit.
    DIEGO
    Ich bin bereit.
    DIE PEST
    Da sind die Male. Sie tun weh. (Entsetzt sieht DIEGO die Pestmale, die wieder an ihm aufgetaucht sind.) So! Leide noch ein wenig, bevor du stirbst. Das ist jedenfalls meine Regel. Wenn der Hass mich verbrennt, lindert mich das Leiden anderer wie kühler Tau. Stöhne ein wenig, das ist gut. Und lass mich zusehen, wie du leidest, bevor du diese Welt verlässt. (Sieht die SEKRETÄRIN an) So, Sie da, an die Arbeit!
    DIE SEKRETÄRIN
    Ja, wenn es sein muss.
    DIE PEST
    Was, schon müde? (Die SEKRETÄRIN nickt, und im selben Moment verändert sich jäh ihr Aussehen. Sie ist jetzt eine alte Frau mit einem Totengesicht.) Ich finde schon seit langem, dass Sie nicht genug hassen. Aber mein Hass braucht frische Opfer. Sorgen Sie dafür, dass es hier ein bisschen schneller geht. Dann machen wir woanders weiter.
    DIE SEKRETÄRIN
    Sie haben recht, der Hass hilft mir nicht, denn er gehört nicht zu meinen Funktionen. Aber daran sind zum Teil Sie schuld. Wer nur mit Papieren arbeitet, dem geht die Leidenschaft verloren.
    DIE PEST
    Geschwätz. Und wenn Sie Hilfe suchen … (deutet auf DIEGO , der auf die Knie fällt) … dann suchen Sie sie in der Freude am Vernichten. Das ist Ihre Funktion.
    DIE SEKRETÄRIN
    Dann also vernichten. Aber mir ist nicht ganz wohl dabei.
    DIE PEST
    Wie kommen Sie dazu, meine Befehle in Zweifel zu ziehen?
    DIE SEKRETÄRIN
    Meine Erinnerung bringt mich dazu. Ich habe ein paar alte Erinnerungen. Ich war frei, mit dem Zufall verbunden, bevor Sie kamen. Damals verabscheute mich niemand. Ich war diejenige, die alles beendet, die die Liebe festlegt, die jedes Schicksal besiegelt. Ich war verlässlich zur Stelle. Aber Sie haben mich in das Korsett von Logik und Vorschriften gezwängt. Das hat mich verändert, früher hatte ich dann und wann noch eine helfende Hand.
    DIE PEST
    Wer würde Sie um Hilfe fragen?
    DIE SEKRETÄRIN
    Alle, die kleiner sind als das Unglück. Also fast alle. Manchmal konnte ich einvernehmlich arbeiten und auf meine Art existieren. Heute tue ich ihnen Gewalt an, und alle verleugnen mich bis zum letzten Atemzug. Darum habe ich ihn hier, den ich jetzt auf Ihren Befehl hin töten soll, vielleicht geliebt. Er hat mich aus freien Stücken gewählt. Auf seine Weise hatte er Mitleid mit mir. Ich liebe diejenigen, die ein Rendezvous mit mir vereinbaren.
    DIE PEST
    Hören Sie auf, Sie irritieren mich! Wir brauchen kein Mitleid.
    DIE SEKRETÄRIN
    Wer brauchte es dringender als diejenigen, die für niemanden Mitleid haben! Wenn ich sage, ich liebe ihn, meine ich, dass ich ihn beneide. Das ist die klägliche Form der Liebe bei uns Mächtigen. Das wissen Sie genau, und Sie wissen genauso, dass wir dafür ein wenig Mitgefühl verdienen.
    DIE PEST
    Ich befehle Ihnen zu schweigen!
    DIE SEKRETÄRIN
    Sie wissen es genau, und Sie wissen auch, dass wir vor lauter Töten irgendwann auf die Unschuld derer eifersüchtig werden, die wir töten. Ach, lassen Sie mich wenigstens für einen kleinen Augenblick diese ewige Logik außer Kraft setzen und davon träumen, mich endlich an einen Körper anzulehnen. Ich beneide all diese Elenden, ja, sogar diese Frau (deutet auf VICTORIA ), die nur wieder zum Leben erwachen wird, um vor Trauer zu schreien wie ein Tier. Sie kann sich wenigstens auf ihr Leid stützen.
    ( DIEGO liegt fast am Boden. Die PEST richtet ihn wieder auf.)
    DIE PEST
    Hoch mit dir, Mann! Das Ende kann erst kommen, wenn meine Mitarbeiterin ihres Amtes waltet. Und du siehst ja, im Moment ist sie sentimental. Aber keine Sorge! Sie wird das Nötige tun, ganz nach den Regeln der Funktion. Die Maschine knirscht ein wenig, das ist alles. Bevor sie ganz und gar hängenbleibt, gebe ich dir diese Stadt zurück, da kannst du dich freuen, du Narr! (Freudenrufe des CHORES . Die PEST wendet sich an ihn.) Ja, ich gehe, aber ihr braucht nicht zu triumphieren, ich bin zufrieden mit mir. Wir haben wieder mal gute Arbeit geleistet. Mir gefällt der Ruf, den mein Name genießt, und ich weiß jetzt, dass ihr mich nicht vergessen werdet. Seht mich an! Seht ein letztes Mal die einzige Macht an, die es auf Erden gibt!
    Erkennt euren wahren Herrscher und lernt die Angst. Lacht. Früher habt ihr behauptet, ihr würdet euren Gott fürchten und seine Willkür. Aber euer Gott war ein Anarchist,

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