Saemtliche Dramen
Sozialrevolutionäre, ein Bombenattentat auf den Großfürsten Sergej, den Onkel des Zaren. Dieser Anschlag und die besonderen Begleitumstände vor und nach der Tat bilden den Gegenstand von
Die Gerechten
. So außergewöhnlich manche der in diesem Stück gezeigten Situationen wirken mögen, so sind sie doch historisch. Das soll nicht heißen,
Die Gerechten
wären ein historisches Stück, das wird man feststellen können. Doch alle Figuren haben tatsächlich gelebt und haben gehandelt, wie ich es zeige. Ich habe nur versucht, wahrscheinlich zu machen, was bereits wahr ist.
Ich habe sogar dem Helden von
Die Gerechten,
Kaljajew, seinen realen Namen gelassen. Nicht, weil es mir an Phantasie mangeln würde, sondern aus Respekt und Bewunderung für Männer und Frauen, deren erbarmungslose Aufgabe auch sie selber schwer quälte. Seitdem hat man Fortschritte gemacht, gewiss, und der Hass, der wie ein unerträgliches Leid auf diesen Seelen lastete, ist zu einem bequemen System geworden. Ein Grund mehr, diese großen Schatten heraufzubeschwören, ihre berechtigte Revolte, ihre komplizierte Brüderlichkeit, die maßlosen Anstrengungen, die sie unternahmen, um sich mit dem Mord zu versöhnen – ein Grund mehr auszudrücken, wie unsere Treue ihnen gegenüber beschaffen ist.
Albert Camus, 1949
O Liebe! Leben! Nein, nicht Leben: Liebe im Tod!
Romeo und Julia, IV , 5
Personen
Dora Dulebow
Iwan Kaljajew, Rufname Janek
Stepan Fjodorow
Boris Annenkow, Rufname Borja
Alexej Woinow
Skuratow
Foka, ein älterer Gefangener
Der Wärter
Die Großfürstin
Die Gerechten
wurde am 15 . Dezember 1949 am Théâtre Hébertot, Paris, uraufgeführt. Regie: Paul Oettly
1 . Akt
(Die Wohnung der Terroristen. Morgen.
Der Vorhang öffnet sich, es herrscht Stille. DORA und ANNENKOW befinden sich auf der Bühne, sie bewegen sich nicht. Die Türklingel läutet einmal. DORA scheint sprechen zu wollen, ANNENKOW hindert sie mit einer Bewegung daran. Die Klingel ertönt wieder, zweimal hintereinander.)
ANNENKOW
Er ist es.
(Geht hinaus. DORA wartet, immer noch reglos. ANNENKOW kommt mit STEPAN ; er hält ihn bei den Schultern.)
Er ist es! Hier ist Stepan.
DORA (geht zu STEPAN und ergreift seine Hand)
Stepan, ich bin so glücklich!
STEPAN
Guten Tag, Dora.
DORA (schaut ihn an)
Drei Jahre ist es schon her.
STEPAN
Ja, drei Jahre. An dem Tag, als ich verhaftet wurde, wollte ich gerade zu euch.
DORA
Wir warteten auf dich. Die Zeit verging, und mir schlug das Herz bis zum Hals. Wir trauten uns nicht mehr, einander anzusehen.
ANNENKOW
Wir mussten wieder einmal die Wohnung wechseln.
STEPAN
Ich weiß.
DORA
Und dann, Stepan?
STEPAN
Wie dann?
DORA
Die Verbannung?
STEPAN
Manchmal kann man fliehen.
ANNENKOW
Ja. Wir waren froh, als wir erfuhren, dass du es in die Schweiz geschafft hattest.
STEPAN
Die Schweiz ist nur eine andere Form der Verbannung, Borja.
ANNENKOW
Was sagst du da? Dort herrscht wenigstens Freiheit.
STEPAN
Die Freiheit ist Verbannung, solange auch nur ein einziger Mensch auf Erden geknechtet wird. Ich war frei, aber ich musste unaufhörlich an Russland und an seine Sklaven denken.
(Pause.)
ANNENKOW
Ich bin froh, Stepan, dass die Partei dich hierhergesandt hat.
STEPAN
Es musste sein. Ich wäre fast erstickt. Handeln, endlich handeln … (Er sieht ANNENKOW an.) Wir werden ihn töten, nicht wahr?
ANNENKOW
Oh ja.
STEPAN
Wir werden diesen Henkersknecht töten. Du führst uns, Borja, und ich werde dir gehorchen.
ANNENKOW
So ein Versprechen ist nicht nötig, Stepan. Wir sind alle Brüder.
STEPAN
Trotzdem, Disziplin muss sein. Das habe ich in der Verbannung gelernt. Die Partei der Sozialrevolutionäre braucht Disziplin. Wenn wir diszipliniert sind, werden wir den Großfürsten töten und die Tyrannei stürzen.
DORA (geht auf ihn zu)
Setz dich doch, Stepan. Du musst müde sein nach der langen Reise.
STEPAN
Ich bin nie müde.
(Pause. DORA setzt sich.)
Ist alles vorbereitet, Borja?
ANNENKOW (in verändertem Tonfall)
Seit einem Monat verfolgen zwei Genossen jede Bewegung des Großfürsten. Dora hat das nötige Material zusammengestellt.
STEPAN
Ist die Proklamation geschrieben?
ANNENKOW
Ja. Ganz Russland wird erfahren, dass der Großfürst Sergej von einer Kampfgruppe der Partei der Sozialrevolutionäre hingerichtet wurde, um die Befreiung des russischen Volkes zu beschleunigen. Der Zarenhof wird außerdem erfahren, dass wir zum Terror entschlossen sind, bis das Land wieder dem Volk
Weitere Kostenlose Bücher