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Sämtliche Werke

Titel: Sämtliche Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Heine
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ihr Heiratsgut behalten. Die holde Närrin! In ihrem Wahnsinn glaubte sie, ein Mann könne mit einem Weibe nicht leben, welches ihn nicht liebe, daran stürbe er, das sei der Tod… Da sie aber sah, daß der Mann auch ohne Liebe leben konnte, daß ihn Lieblosigkeit nicht tötete, da griff sie zu purem Arsenik… Rattengift für eine Ratte!« – Die Männer der Jury von Tulle scheinen Ähnliches gefühlt zu haben, denn sonst wäre es nicht zu begreifen, weshalb sie in ihrem Verdikt von Milderungsgründen sprachen. Soviel ist aber gewiß, daß der Prozeß der Dame von Glandier ein wichtiges Aktenstück ist, wenn man sich mit der großen Frauenfrage beschäftigt, von deren Lösung das ganze gesellschaftliche Leben Frankreichs abhängt. Die außerordentliche Teilnahme, die jener Prozeß erregt, entspringt aus dem Bewußtsein eignen Leids. Ihr armen Frauen, ihr seid wahrhaftig übel dran. Die Juden in ihren Gebeten danken täglich dem lieben Gott, daß er sie nicht als Frauenzimmer zur Welt kommen ließ. Naives Gebet von Menschen, die eben durch Geburt nicht glücklich sind, aber ein weibliches Geschöpf zu sein für das schrecklichste Unglück halten! Sie haben recht, selbst in Frankreich, wo das weibliche Elend mit so vielen Rosen bedeckt wird.
XXI
    Paris, 3. Oktober 1840
    Seit gestern abend herrscht hier eine Aufregung, die alle Begriffe übersteigt. Der Kanonendonner von Beirut findet sein Echo in der Brust aller Franzosen. Ich selber bin wie betäubt: schreckliche Befürchtungen dringen in mein Gemüt. Der Krieg ist noch das geringste der Übel, die ich fürchte. In Paris können Auftritte stattfinden, wogegen alle Szenen der vorigen Revolution wie heitere Sommernachtsträume erscheinen möchten! Der
vorigen
Revolution? Nein, die Revolution ist noch eine und dieselbe, wir haben erst den Anfang gesehen, und viele von uns werden die Mitte nicht überleben! Die Franzosen sind in einer schlechten Lage, wenn hier die Bajonettenmehrzahl entscheidet. Aber das Eisen tötet nicht, sondern die Hand, und diese gehorcht der Seele. Es kommt nun darauf an, wieviel Seele auf jeder Waagschale sein wird. Vor den Bureaux de recrutements macht man heute Queue, wie vor den Theatern, wenn ein gutes Stück gegeben wird: eine unzählige Menge junger Leute läßt sich als Freiwillige zum Militärdienst einschreiben. Im Palais Royal wimmelt’s von Ouvriers, die sich die Zeitungen vorlesen und sehr ernsthaft dabei aussehen. Der Ernst, der sich in diesem Augenblick fast wortkarg äußert, ist unendlich beängstigender als der geschwätzige Zorn vor zwei Monaten. Es heißt, daß die Kammern berufen werden, was vielleicht ein neues Unglück. Deliberierende Korporationen lähmen jede handelnde Tatkraft der Regierung, wenn sie nicht selbst alle Regierungsgewalt in Händen haben, wie z.B. der Konvent von 1792. In jenem Jahre waren die Franzosen in einer weit schlimmern Lage als jetzt.
XXII
    Paris, 7. Oktober 1840
    Stündlich steigt die Aufregung der Gemüter. Bei der hitzigen Ungeduld der Franzosen ist es kaum zu begreifen, wie sie es aushalten können in diesem Zustand der Ungewißheit. »Entscheidung, Entscheidung um jeden Preis!« ruft das ganze Volk, das seine Ehre gekränkt glaubt. Ob diese Kränkung eine wirkliche oder nur eine eingebildete ist, vermag ich nicht zu entscheiden; die Erklärung der Engländer und Russen, daß es ihnen nur um die Sicherung des Friedens zu tun sei, klingt jedenfalls sehr ironisch, wenn zu gleicher Zeit zu Beirut der Kanonendonner das Gegenteil behauptet. Daß man auf den dreifarbigen Pavillon des französischen Konsuls zu Beirut mit besonderer Vorliebe gefeuert hat, erregt die meiste Entrüstung. Vorgestern abend verlangte das Parterre in der Großen Oper, daß das Orchester die Marseillaise anstimme; da ein Polizeikommissär diesem Verlangen widersprach, sang man ohne Begleitung, aber mit so schnaubendem Zorn, daß die Worte in den Kehlen stockten und ganz unverständlich hervorgebrüllt wurden. Oder haben die Franzosen die Worte jenes schrecklichen Lieds vergessen und erinnern sich nur noch der alten Melodie? Der Polizeikommissär, welcher auf die Szene stieg, um dem Publikum eine Gegenvorstellung zu machen, stotterte unter vielen Verbeugungen: das Orchester könne die Marseillaise nicht aufspielen, denn dieses Musikstück stünde nicht auf dem Anschlagzettel. Eine Stimme im Parterre erwiderte: »Mein Herr, das ist kein Grund, denn Sie selbst stehen ja auch nicht auf dem Anschlagzettel.« Für heute hat der

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